Jubel um Mitternacht Nach 112 Tagen: „Der Ausreise steht nichts mehr im Wege“
Istanbul (dpa) - Einen Jubel wie vor dem 14. Schwurgericht in Istanbul hört man dieser Tage selten in Justizgebäuden der Türkei. Fast schon Mitternacht war es, als die Nachricht aus dem Gerichtssaal drang: Die Richter haben die Freilassung des deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner, seines schwedischen Kollegen Ali Gharavi und der inhaftierten türkischen Mitangeklagten angeordnet.
Bald darauf kam Anwalt Murat Boduroglu strahlend aus dem Saal, mit seinen Kollegen hat er seit mehr als drei Monaten für die Freilassung Steudtners und Gharavis gekämpft. Boduroglu sagte mit Blick auf seine Mandanten: „Der Ausreise steht nichts mehr im Wege.“
Nach der mehr als zwölf Stunden dauernden Verhandlung folgte der Richter mit seiner Entscheidung weitgehend der Forderung des Staatsanwalts. Dieser hatte überraschend die Freilassung zumindest der meisten Angeklagten gefordert, darunter auch die der beiden Ausländer. Nun kommen alle frei, einige unter Auflagen. Eine Ausnahme stellt lediglich der Vorsitzende von Amnesty International in der Türkei, Taner Kilic, dar - er sitzt wegen eines anderes Verfahrens in U-Haft, das an diesem Donnerstag in Izmir beginnen soll.
Die Angeklagten werden nur bis zu einem Urteil auf freien Fuß gesetzt, das Verfahren in Istanbul geht im November weiter. Für Steudtner und Gharavi dürfte das aber keine Auswirkungen mehr haben. Sie werden so bald wie möglich in die Heimat fliegen, und die Türkei wird künftig sicher nicht mehr auf der Liste ihrer Reiseziele stehen.
Derselbe Staatsanwalt, der nun ihre Freilassung vorantrieb, klagt sie und die türkischen Beschuldigten der „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“ und der Unterstützung solcher Gruppen an. Darauf stehen bis zu 15 Jahre Haft.
Steudtners Beruf ist das Training von Menschenrechtlern, die er in digitalen Verschlüsselungstechniken und bei der Stressbewältigung berät. Wie gut er selber Stress bewältigen kann, davon vermittelte sein Auftritt vor dem Gericht zu Beginn der Verhandlung am Mittwoch einen Eindruck: Vor 112 Tagen wurde Steudtner festgenommen, seitdem hat er seine Familie in Berlin nicht mehr gesehen. Dennoch wirkte der 45-Jährige erstaunlich gefasst, während er die Anklageschrift geduldig Stück für Stück auseinandernahm.
Steudtner, Gharavi, Amnesty-Chef Kilic und Amnesty-Landesdirektorin Idil Eser gehören zu den elf Menschenrechtlern, die angeklagt wurden. Der Prozess wurde in Deutschland auch als Testfall für den Rechtsstaat in der Türkei gewertet - und für die Beziehungen zu Ankara. Hintergrund der Anklage ist ein Seminar auf der Insel Büyükada vor der Küste Istanbuls, zu dem Steudtner und Gharavi als Referenten eingeladen waren und das die Polizei am 5. Juli stürmte.
Steudtner berichtete in seiner 40-minütigen Verteidigung von der Razzia, und seine Aussage erweckte den Eindruck, als habe die Polizei damals gezielt nach ihm gesucht. Die Polizisten hätten „Wo ist Peter?“ gerufen, sagte er. „Ich weiß nicht, warum.“ Noch in derselben Nacht sei er einem „informellen und sehr bedrohlichen“ Verhör durch drei Polizisten ausgesetzt gewesen, von denen einer fließend Deutsch gesprochen habe. Dabei sei er beschuldigt worden, verschiedenen Terrorgruppen anzugehören.
In der Anklageschrift sind mehrere Terrorgruppen namentlich erwähnt, es findet sich aber keinerlei Beleg dafür, dass Steudtner oder Gharavi Verbindungen zu ihnen hätten. Steudtner sagte: „Als ich die Namen der Terrororganisationen gesehen habe, ist mir aufgefallen, dass ich nur zwei von ihnen kannte, bevor ich in die Türkei gekommen bin.“ Zur Türkei habe er kaum Bezug, in seiner Arbeit konzentriere er sich auf Afrika. Eine Arbeit, die im Übrigen stets ausgerichtet gewesen sei auf „Menschenrechte, Gewaltfreiheit und Friedensbildung“.
Steudtner legte dar, warum Verschlüsselung von Daten nicht automatisch bedeutet, dass man der Polizei Informationen verheimlichen will. Ein Übersetzer hat beim Staatsanwalt ausgesagt, beim Seminar sei über die App Bylock gesprochen worden - eine Verschlüsselungs-App, die die Gülen-Bewegung verwendet hat, die die Regierung für den Putschversuch vom Juli 2016 verantwortlich macht. Steudtner sagt, das erste Mal von Bylock gehört habe er bei dem Seminar, und zwar von den Übersetzern.
Steudtner betonte: „Ich habe nie in meinem Leben irgendeine militante oder terroristische Organisation unterstützt.“ Zum Schluss seiner Verteidigung sagte er: „Ich plädiere in allen Anklagepunkten auf nicht schuldig und bitte um meine sofortige und bedingungslose Freilassung.“ Danach bedankt er sich auf Türkisch. Als der Richter ihn anschließend auf ein Gesetz hinweist, das Strafminderung im Fall von Reue vorsieht, erwidert Steudtner: „Ich habe nichts zu bereuen.“
Nach Steudtner sprach sein schwedischer Kollege Gharavi, dem die Haft schwer zu schaffen gemacht hat. Gharavi erzählte, wie er als Kind von seiner Flucht aus dem Iran traumatisiert wurde. Nachdem es Jahre gedauert habe, dieses Trauma zu bewältigen, sei er nun in der Türkei in U-Haft. Keiner der gegen ihn erhobenen Vorwürfe treffe zu, sagte er, ihm drohte dabei die Stimme zu versagen. „Ich erwarte meine sofortige und bedingungslose Freilassung aus dieser Foltersituation.“
Die Anklageschrift gegen die Menschenrechtler ha international Empörung ausgelöst, Amnesty nennt sie „absurd“. Nachvollziehbare Belege für eine Unterstützung von Terrororganisationen oder gar eine Mitgliedschaft in einer solchen finden sich darin in keinem Fall. Die Anklage argumentiert, dass es den Teilnehmern des Workshops darum gegangen sei, „gesellschaftliches Chaos“ zu provozieren - was schließlich auch den Interessen von Terrorgruppen diene.
Die darüber hinausgehenden Vorwürfe gegen die einzelnen Angeklagten wirken zumindest fragwürdig. Manche von ihnen werden beschuldigt, lediglich mit Menschen telefoniert zu haben, die Bylock auf ihren Handys gehabt haben sollen - als ob der Anrufer wissen könnte, welche Software auf dem Smartphone des Gesprächspartners installiert ist. Der Kontakt zu angeblichen Terrorverdächtigen kann in der Türkei inzwischen ausreichen, um ins Fadenkreuz der Justiz zu geraten.
Der Grünen-Politiker Özcan Mutlu, der als Prozessbeobachter nach Istanbul gereist war, sagte: „Die Anklageschrift ist wie eine Ansammlung von Verschwörungstheorien. In einem Rechtsstaat würde kein Richter das akzeptieren.“ Mutlu machte auch deutlich, wie viel politische Bedeutung der Prozess aus deutscher Sicht hat.
„Die deutsch-türkischen Beziehungen sind am Boden“, sagte Mutlu kurz vor Beginn der Verhandlung. Sollte Steudtner nicht freikommen, „dann wird es eine weitere Eskalationsstufe in den deutsch-türkischen Beziehungen geben. Und das wird nicht schön ausgehen.“ Mutlu sagte aber auch, das Verfahren könnte „ein ganz ganz wichtiger Faktor“ dabei sein, die Beziehungen langsam wieder zu verbessern - und zwar dann, wenn das geschehe, was nun eingetreten ist: dass Steudtner freikommt und nach Deutschland ausreisen darf.