Nazi-Mordserie: V-Leute geraten ins Visier
Berlin (dpa) - Die Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ hat sich bei ihrer beispiellosen Mordserie womöglich auf weit mehr Helfer stützen können als bisher bekannt. Wegen möglicher Verstrickungen stellt die Politik V-Leute des Verfassungsschutzes in der rechtsextremen Szene immer stärker infrage.
Der Ruf nach grundlegenden Reformen des Verfassungsschutzes wird lauter. Zugleich steigt die Wahrscheinlichkeit eines neuen Anlaufs für ein NPD-Verbotsverfahren.
Das mutmaßliche Mitglied der Zwickauer Terrorzelle, Beate Zschäpe, will nach Informationen der „Stuttgarter Nachrichten“ (Mittwoch) an diesem Mittwoch eine umfassende Aussage machen. „Sie will auspacken und berät sich deshalb mit ihrem Anwalt“, zitierte das Blatt einen Beamten aus Ermittlerkreisen. Nach einem ARD-Bericht hatte das Trio, das für zehn Morde verantwortlich sein soll, einen Unterstützer in Sachsen. Der in Johanngeorgenstadt lebende Neonazi Matthias D. habe die Wohnung in Zwickau angemietet, in der Zschäpe von 2001 bis 2008 unter falschem Namen lebte. Zudem sei der 34-Jährige Mieter der Wohnung gewesen, in der Zschäpe mit ihren Komplizen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zuletzt Unterschlupf fanden, berichtete das Magazin „Fakt“ am Dienstag.
„Es gibt Hinweise auf weitere Helfer“, sagte der Vorsitzende des parlamentarischen Gremiums zur Kontrolle der Geheimdienste, SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann, nach einer Sitzung des Gremiums. Hans-Peter Uhl (CSU) sagte der Nachrichtenagentur dpa: „Weitere Mitwisser gibt es auf jeden Fall.“ Es bestehe die Gefahr, dass Mittäter noch unentdeckt seien. Dringend müssten Computer-Festplatten, Handys und Verbindungsdaten der Täter und bereits bekannter Helfer untersucht werden. „Nur durch die Festplatten können wir feststellen, wie groß dieser braune Sumpf ist.“
Unionsfraktionsgeschäftsführer Peter Altmaier (CDU) sagte auf dem CDU-Parteitag in Leipzig, rasch müsse aufgeklärt werden, welche konkrete Gefährdung noch drohe und wie groß der Helferkreis sei. Auf das Konto der Zwickauer Zelle sollen Morde an neun Geschäftsleuten türkischer und griechischer Abstammung sowie an einer Polizistin in Heilbronn gehen. Im Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen prüft eine zweistellige Zahl von Ermittlern, ob weitere ungeklärte Verbrechen auf das Konto der Gruppe gehen.
Politiker warfen den Verfassungsschutzbehörden Versagen vor. Der Einsatz von Verbindungsleuten in der rechtsextremen Szene wird immer lauter infrage gestellt. Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) sagte in Leipzig, wenn ihr Einsatz kaum Erfolg habe und ein NPD-Verbotsverfahren daran scheitern könne, müsse dieses Instrument auf den Prüfstand. „Ein Instrument, das uns nichts bringt, das brauchen wir auch nicht.“ Er fragte: „Warum hat es dann so lange gedauert, bis wir etwas erfahren haben?“
FDP-Generalsekretär Christian Lindner sagte: „Die Strukturen des Verfassungsschutzes gehören nach den jüngsten Enthüllungen auf den Prüfstand.“ Grünen-Fraktionschefin Renate Künast sagte der dpa: „Man muss die V-Leute im Rechtsextremismus infrage stellen.“ Es seien meist zu 100 Prozent überzeugte Rechtsextreme.
Verwirrung gab es um einen hessischen Verfassungsschützer, der 2006 am Tatort eines Mordes in Kassel war. Nach unbestätigten Medienberichten soll er noch während des Mordes 2006 in dem Café anwesend gewesen sein. Einem Bewegungsprofil zufolge könnte er sogar bei sechs der neun Morde aus der Serie in der Nähe des Tatortes gewesen sein. Entsprechende Hinweise wurden im Kontrollgremium des Bundestags aber nicht bestätigt. Oppermann teilte mit: „Dieser Mann hat eine offenkundig stark rechte Gesinnung.“
In Thüringen soll der ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof, Gerhard Schäfer, herausfinden, was schiefgegangen ist bei der Jagd nach dem Neonazi-Trio. Innenminister Jörg Geibert (CDU) stellte den 74-Jährigen als Vorsitzenden einer Untersuchungskommission vor. Die drei Rechtsextremen aus Jena konnten 1998 trotz Haftbefehls und der Beobachtung durch den Landesverfassungsschutz untertauchen. Das Untersuchungsgremium soll in den nächsten drei Monaten die Umstände prüfen.
Immer mehr Fürsprecher findet ein NPD-Verbot. Für die Prüfung eines neuen Verfahrens sprach sich einstimmig der CDU-Parteitag aus. Die Delegierten folgten damit Kanzlerin Angela Merkel. In der ARD sagte Merkel: „Wir müssen uns sehr sicher sein, dass das vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand hat. Dazu müssten wir auf die sogenannten V-Leute (...) verzichten.“ Dies müsse abgewogen werden. Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) sagte im ZDF: „Das ist mit einem hohen Risiko verbunden, weil wir dann über viele Jahre keinen Einblick in den inneren Betrieb der Partei haben.“
SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte „Spiegel Online“: „Das Verbot der NPD muss kommen - völlig unabhängig von der Mordserie.“ Der FDP-Innenpolitiker Hartfrid Wolff warnte dagegen vor Schnellschüssen. „Das macht nur Sinn, wenn neue Erkenntnisse und juristische Bewertungen da sind.“ Das Bundesverfassungsgericht hatte ein erstes Verbotsverfahren 2003 gestoppt.
Das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestags, der Innenausschuss und wohl auch der Rechtsausschuss wollen sich in den kommenden Tagen weiter mit den Taten und ihren Hintergründen befassen. Die Mordserie und die Rolle des hessischen Verfassungsschützers wird auch die Kontrollkommission des hessischen Landtags beschäftigen. Hans-Christian Ströbele (Grüne) forderte einen Untersuchungsausschuss des Bundestages. Die FDP-Bundestagsfraktion zeigte sich offen für den Vorschlag.
Innenminister Friedrich (CSU) widersprach dem Vorwurf, Deutschlands Sicherheitsbehörden seien auf dem rechten Auge blind. „Wir haben die rechtsextremistische Szene sehr genau im Blick“, sagte er dem Bonner „General-Anzeiger“ (Mittwoch). Dies gelte vor allem im Hinblick auf das gewaltbereite Spektrum. Der Koordinationsrat der Muslime in Deutschland (KRM) warf den Ermittlern eklatante Fehler vor. Die Dachorganisation sprach von „Fehlbeurteilungen“, durch die Extremisten zu neuer Gewalt ermutigt werden könnten. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) versicherte bei einem Besuch der Türkischen Gemeinde Deutschlands in Berlin, Ausländerfeindlichkeit und Extremismus hätten in Deutschland keinen Platz.
Mit den Opfern der Mordserie erhöhte sich die Zahl der Todesopfer durch rechtsextreme und rassistische Gewalt nach einer Zählung von Anti-Rechts-Initiativen auf 182 seit der Wiedervereinigung. Gezählt worden seien alle Fälle, für die „glaubhafte Hinweise auf einen rechtsextremen oder rassistischen Hintergrund vorlagen“, erklärte die Amadeu Antonio Stiftung in Berlin. Die Bundesregierung zähle hingegen lediglich 47 Todesopfer seit 1990.