Popcorn zum Ausnahmezustand - und Angst vor dem „Pogrom“
Istanbul (dpa) - Es ist halb drei am Morgen, gerade ist der Ausnahmezustand in der Türkei in Kraft getreten - und auf dem Taksim-Platz in Istanbul feiern Anhänger von Präsident Recep Tayyip Erdogan, als hätte die Nationalmannschaft ein Fußballspiel gewonnen.
Ein Meer türkischer Flaggen, junge Männer recken die Hand mit vier ausgestreckten Fingern in die Luft, ursprünglich das Zeichen der ägyptischen Islamisten, das sich Erdogan zu eigen gemacht hat. Manche hüpfen im Takt von Erdogans Wahlkampfsong, der seit dem niedergeschlagenen Putsch zum Hit mutiert.
„Wir sind die Kinder einer großen Nation“, ruft ein Redner von der Bühne, die auf dem Taksim hochgezogen wurde. „Wir sind die Enkel von Sultan Fatih“, der 1453 Konstantinopel eroberte, das heutige Istanbul. Wann immer der inzwischen schon heisere Einpeitscher den Namen des Präsidenten nennt, branden Applaus und Jubelrufe auf. Händler verkaufen rote Schals mit Erdogans Konterfei. Ein Vater hebt seinen vielleicht vierjährigen Jungen auf die Schultern, der ein Stirnband mit der Aufschrift trägt: Märtyrer sind unsterblich.
Andere schwenken Fahnen mit der islamischen Glaubensformel oder die Flagge der syrischen Rebellen. Erdogan kann sich der Loyalität der Flüchtlinge sicher sein, die er aufgenommen und denen er kürzlich die türkische Staatsbürgerschaft in Aussicht gestellt hat. Straßenhändler haben ihre Karren auf den Taksim gerollt, sie verkaufen Köfte, Maiskolben und Snacks. Zum Ausnahmezustand gibt es Popcorn.
Ein Mann trägt ein Plakat mit dem Konterfei des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen, darauf steht in großen Lettern: „Volksfeind Fetö“. Das Kürzel Fetö ist in der Türkei spätestens seit dem Putschversuch jedem Kind geläufig, es steht für „Fethullahci Terör Örgütü“ - „Terrororganisation der Fethullah-Anhänger“.
Erdogan macht Gülen für den Umsturzversuch von Militärs verantwortlich, die mit hemmungsloser Gewalt auch gegen Zivilisten vorgingen. Gülen - einst ein enger Vertrauter Erdogans - dementiert, der Drahtzieher gewesen zu sein. Dass er aber über weite Netzwerke in der Türkei verfügt, gilt als gesichert.
Erdogan begründet die Verhängung des 90-tägigen Ausnahmezustands nun damit, staatliche Stellen effektiver von Gülen-Anhängern „säubern“ zu können. „Egal, wohin sie fliehen, wir sind ihnen auf den Fersen“, droht er.
Der Ausnahmezustand stärkt Erdogans Macht, er kann nun per Dekret weitgehend durchregieren. Seine Erlasse haben ab sofort Gesetzeskraft und treten mit der Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft. Noch am selben Tag müssen sie zwar dem Parlament zur Zustimmung vorgelegt werden. Die AKP-Mehrheit, die Erdogan bedingungslos folgt, dürfte sie aber allesamt abnicken. Erdogans Einfluss auf das Parlament ist so gewaltig, dass er die Abgeordneten kürzlich dazu brachte, die Immunität von mehr als einem Viertel ihrer Kollegen aufzuheben.
Erdogan kann nun Grundrechte einschränken oder außer Kraft setzen lassen. Mit aller Macht versuchen der Präsident und die Regierung aber, Sorgen zu zerstreuen, dass das geschehen könnte. Erdogan wendet sich in der Nacht gleich in mehreren Ansprachen an das Volk, die Zehntausende auf den Plätzen des Landes auf Großleinwänden verfolgen. „Habt keine Sorge“, sagt er. „Es wird im Ausnahmezustand definitiv keine Einschränkungen geben. Dafür garantieren wir.“ Und er fügt hinzu: „Wir werden von der Demokratie keinen Schritt abweichen.“
Unmittelbar nach der Verhängung des Ausnahmezustands meldet sich der frühere Finanzminister und heutige Vize-Ministerpräsident Mehmet Simsek per Twitter zu Wort - auf Englisch. Der international respektierte Wirtschaftsfachmann will das Ausland beruhigen, das mit wachsender Sorge auf das türkische Chaos blickt.
Der Ausnahmezustand diene vor allem dazu, Dekrete erlassen zu können, „um den Staat von bösartigen Elementen zu säubern“, schreibt Simsek. Er versichert, weder die Pressefreiheit noch die Versammlungs- oder die Bewegungsfreiheit würden eingeschränkt. Ministerpräsident Binali Yildirim teilt via Twitter mit, der Ausnahmezustand werde das Alltagsleben der Menschen nicht beeinflussen.
Dieses Leben geht am Tag eins des Ausnahmezustands seinen gewohnten Gang - zumindest für jene Türken, die nicht verdächtigt werden, Sympathien für Gülen zu hegen. In Istanbul bringen Bosporus-Fähren müde Pendler von Asien nach Europa und umgekehrt. Busse am Taksim-Platz spucken am Morgen Berufstätige aus. Geschäfte auf der Einkaufsmeile Istiklal Caddesi öffnen ihre Rollläden. Nirgendwo sind Checkpoints oder zusätzliche Sicherheitskräfte zu sehen.
Tatsächlich dürfte es Erdogan vor allem ums Durchregieren per Dekret gehen - und darum, nach dem Putschversuch, der ihn für kurze Zeit verletzlich erscheinen ließ, ein Zeichen der Stärke zu setzen. Zu den Maßnahmen, die das Gesetz jetzt erlauben würde, hat Erdogan schließlich schon vor dem Ausnahmezustand immer wieder gegriffen. Bereits in den Tagen vor dem Notstand wurden nicht nur Tausende Menschen festgenommen, sondern auch Zehntausende angebliche Anhänger der Gülen-Bewegung vom Staatsdienst suspendiert.
Demonstrationen von Regierungskritikern sind vor dem Notstand zwar nicht prinzipiell verboten gewesen. Die Polizei zerschlug sie aber mit Wasserwerfern und Tränengas, selbst wenn es sich um harmlose Veranstaltungen wie kürzlich die Gay Pride handelte. Über kurdische Städte im Südosten verhängte die Regierung auch ohne Ausnahmezustand wochenlange Ausgangssperren. Gülen-nahe Medien wurden unter Zwangsverwaltung und auf Regierungskurs gezwungen.
Für eines dieser Medien hat Metin Yilmaz gearbeitet, der nicht wirklich so heißt, als Gülen-Anhänger aber seinen echten Namen nicht veröffentlicht sehen möchte. Yilmaz ist auf der Flucht, er telefoniert von einem Flughafen aus, auf einem Zwischenstopp in die EU. Seine Familie habe er zurücklassen müssen, weil seine Kinder keine Reisepässe hätten, sagt der Journalist. „Wenn sie Pässe beantragen, weiß ich nicht, ob sie sie bekommen.“ Yilmaz erzählt von einem Fall, bei dem ein Bekannter geflohen und der Ehefrau der Pass verweigert worden sei - weil gegen ihren Mann ermittelt werde.
„Von der ersten Stunde an habe ich den Putschversuch verurteilt“, sagt der Journalist. „Wenn er erfolgreich gewesen wäre, wäre ich ins Gefängnis gekommen. Nachdem der Putsch gescheitert ist, sind wir wieder das Ziel. Es ist eine sonderbare Situation.“
Vor seiner Flucht wäre er gerne zu den allabendlichen „Demokratie-Wachen“ gegen mögliche weitere Putschisten gegangen. „Aber das wäre schwierig gewesen. Hätte mich jemand erkannt, wäre ich gelyncht worden.“
Erdogan nutze den Putschversuch der Militärs als Vorwand, um alle Gegner aus staatlichen Institutionen zu tilgen, meint Yilmaz. „Welche Verbindung soll es denn zwischen Putschisten und einem Lehrer in Erzurum, einem Staatsanwalt in Antalya und einem Beamten im Gesundheitsministerium geben?“
Erdogan mache seit drei Jahren Stimmung gegen Gülen-Anhänger, damals überwarf er sich mit dem in den USA lebenden Prediger. „Schon lange hat sich der Hass gegen die Bewegung angebahnt“, sagt Yilmaz. „Jetzt sind wir in eine neue Phase eingetreten: Eine Phase des Pogroms.“