Porträt: Der Mentor der Nation
Hamburg/Berlin (dpa) - Bis zuletzt hatte sein Wort Gewicht. Er stand so über den Dingen, dass er auf jedem Podium der Republik seine geliebten Mentholzigaretten rauchen durfte.
Und bis zuletzt machte Helmut Schmidt aus seiner Unzuicht nur die nächste Wahl, sondern auch das langfristig Notwendige im Blick haben“, schrieb er in seinem letzten Buch „Was ich noch sagen wollte“. „Der Trend, nur noch in Legislaturperioden zu denken, hat seither erheblich zugenommen.“
Im kollektiven Gedächtnis vieler Landsleute war der SPD-Politiker eine Idealbesetzung als Kanzler - er scheute auch nicht den Konflikt mit seiner Partei, wenn es dem Land diente. Als „Mentor der Nation“ bezeichnete ihn sein langjähriger Weggefährte, der Journalist Theo Sommer. Am Dienstag starb Schmidt im Alter von 96 Jahren in seinem Haus in Hamburg.
Mit ihm geht eine der prägenden Figuren der Bundesrepublik, die die Lehren aus der schrecklichen Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs in politisches Handeln umzusetzen versuchte. Er wurde ein Motor der europäischen Einigung. Den Hamburgern ist die Besonnenheit unvergesslich, mit der Schmidt in seiner Heimatstadt die Folgen der Flutkatastrophe von 1962 beseitigte. Andere erinnern sich an die Entschlossenheit, mit der er sein Land durch die Stürme nach den Ölpreisschocks steuerte. Für viele bleibt aber das Bild des „Mannes von Mogadischu“, der den RAF-Terroristen die Stirn bot.
Und da war das Bild der Seite an Seite rauchenden Eheleute Schmidt. 68 Jahre waren sie verheiratet. „Loki war der Mensch in meinem Leben, der mir am wichtigsten war“, sagte er. Sie starb im Herbst 2010, bei der Trauerfeier im Hamburger Michel war Schmidt von Trauer schwer gezeichnet, er trug beide Eheringe an der rechten Hand. 2012 bekannte er sich zu seiner neuen Freundin Ruth Loah, die seit Jahrzehnten zu Schmidts Vertrauten gehörte und ohne die er - wie Schmidt sagte - den Verlust von Loki nicht überlebt hätte. Für Aufsehen sorgte er Anfang 2015 mit dem Bekenntnis eines Seitensprungs in der Ehe mit Loki Ende der 60er Jahre. Ein Mal habe es etwas gegeben, „was ein Außenstehender eine Krise nennen könnte. Ich hatte eine Beziehung zu einer anderen Frau“, so Schmidt.
Er und Loki hatten in den 70er Jahren im Zuge des Terrors der Roten Armee Fraktion schriftlich hinterlegen lassen, dass sie sich im Falle einer Entführung nicht gegen inhaftierte Terroristen austauschen lassen wollen. So verfuhr Schmidt auch beim in Köln gekidnappten Arbeitgeber-Präsident Hanns Martin Schleyer, der ermordet wurde. Schleyers Tod lastete zeitlebens schwer auf ihm.
Die achteinhalbjährige Kanzlerschaft von 1974 bis 1982 verlief durch äußere Umstände aber eher glanzlos. Es ging weniger um ganz große Weichenstellungen wie bei Willy Brandt und seiner Ostpolitik, Schmidt prägte keine Ära - dafür wurde er später als Altkanzler und Einmischer umso mehr verehrt. Zur Bilanz des „Machers“ gehören allerdings auch Versäumnisse. So konnte er wenig mit der aufkommenden Ökologiebewegung anfangen. Er wurde so zum Geburtshelfer der Grünen.
Der „von Geburt und aus Gesinnung“ überzeugte Hanseat wurde am 23. Dezember 1918 in Hamburg-Barmbek geboren. Er besuchte die reformpädagogische Lichtwark-Schule, wo er 1929 seine spätere Frau, Hannelore „Loki“ Glaser kennenlernte. Seine Eltern drängte er in der NS-Zeit, in die Hitlerjugend eintreten zu dürfen, was sie abblockten. Auf die Frage nach dem Warum erwiderte die Mutter: „Weil Du einen jüdischen Großvater hast.“ Mit Blick auf seine spätere Zeit als Wehrmachtssoldat betont Schmidt: „Ich war weiß Gott kein Nazi.“
Dass die Nationalsozialisten verrückt seien, sei ihm 1937 klar geworden, als sie von ihm verehrte Expressionisten als entartete Kunst einstuften. Er wollte aus Deutschland weg, klopfte bei Shell in Hamburg an, um einen Job in Holländisch-Indien zu bekommen. Daraus wurde nichts, auch nicht aus einem Architektur-Studium. 1942 heiratete er Loki, die sich später in Deutschland als Botanikerin und Naturschützerin einen Namen machte. Der erste Sohn starb mit acht Monaten an einer Hirnhautentzündung. Schmidt war zu der Zeit an der Front. Der Feldpostbrief mit der Todesnachricht ging verloren. „Erst aus einem späteren Brief zog ich die Schlussfolgerung, dass der Junge gestorben sein muss. Es war ein schrecklicher Moment“, berichtete Schmidt in seinem Buch „Was ich noch sagen wollte“, das im März 2015 erschien.
Nach kurzer Gefangenschaft studierte Schmidt Volkswirtschaft und Staatswissenschaft. 1946 trat er der SPD bei, Tochter Susanne wurde 1947 geboren, 1953 wurde er in den Bundestag gewählt. Kurz nach der Rückkehr nach Hamburg als Innensenator bewies er bei der Sturmflut im Februar 1962 erstmals sein Talent als souveräner Krisenmanager, der sich in diesem Notfall auch über Vorschriften hinwegsetzte.
Danach verlief die Karriere stetig nach oben. 1965 stellvertretender SPD-Fraktionschef in Bonn, ein Jahr später - nach Bildung der Großen Koalition - Fraktionschef. Im ersten sozial-liberalen Kabinett wurde er Verteidigungsminister. 1972 übernahm er das Amt des Wirtschafts- und Finanzministers. Der „SPD-Kronprinz“ rechnete gar nicht mehr damit, den Sprung ins Kanzleramt zu schaffen. Als Willy Brandt 1974 wegen der Affäre um DDR-Spion Günter Guillaume zurücktrat, kam doch noch die Chance. Am 16. Mai 1974 wurde Schmidt mit den Stimmen von SPD und FDP zum fünften Kanzler der Bundesrepublik gewählt.
„Ich bin Eklektiker, das heißt, ich suche mir überall das heraus, was zu mir passt. Und wende es so an, dass es mich weiterbringt“, beschrieb er mal seinen pragmatischen Politikstil. Praktisch von Beginn an wurde er durch den Linksterrorismus herausgefordert. Im „Deutschen Herbst“ 1977 hielt die Entführung von Arbeitgeberpräsident Schleyer die Republik sieben Wochen lang in Atem. Als am 13. Oktober ein Palästinenser-Kommando zusätzlich noch die Lufthansa-Maschine „Landshut“ entführte, um die in Stuttgart-Stammheim inhaftierte RAF-Führung freizupressen, bewies Schmidt Nervenstärke.
Sein politisches Handeln speiste sich aus einer Vielzahl von Inspirationen, zum Beispiel verwies er unter anderem auf den römischen Kaiser und Philosophen Marc Aurel. „Seine beiden für mich wichtigsten Gebote, innere Gelassenheit und Pflichterfüllung, standen mir immer vor Augen.“ Das habe ihm als Bundeskanzler im „Deutschen Herbst“ geholfen. Seinem Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski („Ben Wisch“) habe er gesagt: „Du hast jede Vollmacht, und wenn es notwendig erscheint, reicht diese Vollmacht über das Grundgesetz hinaus.“ Es habe 50 zu 50 gestanden. „Entweder fliegen wir 90 Passagiere nach Hause, oder sie werden in die Luft gesprengt.“ Die Operation im somalischen Mogadischu war dank der GSG-9 erfolgreich. Wäre es anders verlaufen, wäre Schmidt als Kanzler zurückgetreten.
Damals erlebte der SPD-Politiker, dessen Koalition mit der FDP 1976 mit 50,5 Prozent der Stimmen bestätigt wurde, einen Höhepunkt seiner Popularität. Vier Jahre später baute er die Mehrheit aus. Kurz danach begann aber die „Kanzlerdämmerung“, vor allem parteiintern. Wegen des Nato-Nachrüstungsbeschlusses und des Streits um die Finanzierbarkeit des Sozialstaats gerieten er und der linke SPD-Flügel zunehmend über Kreuz. Aber die Geschichte gab Schmidt Recht. Der Doppelbeschluss habe in den INF-Vertrag gemündet, den „ersten völkerrechtlich gültigen beidseitigen Abrüstungsvertrag seit dem Zweiten Weltkrieg“.
Die FDP suchte aber wegen der Differenzen den Absprung. Am 1. Oktober 1982 wurde er als erster Kanzler durch ein Misstrauensvotum abgelöst, der Nachfolger hieß Helmut Kohl - auf Rot-Gelb folgte Schwarz-Gelb.
Anschließend begann der Rückzug aus der Tagespolitik. 1987 gab Schmidt nach 33 Jahren sein Bundestagsmandat auf. Unbelastet von Ämtern gab der Mitherausgeber der „Zeit“ immer wieder Ratschläge. Es häuften sich aber körperliche Probleme des Kettenrauchers. Schwer zu schaffen machte dem Musikliebhaber die zunehmende Schwerhörigkeit.
Die Millionen, die er mit Vorträgen und Bucheinnahmen verdient hat, sind zum größten Teil nicht auf seinem Privatkonto gelandet. Die meisten Honorare flossen an die Helmut- und Loki-Schmidt-Stiftung.
Seine letzte große Rede bei einem SPD-Bundesparteitag hielt der weltweit vernetzte „Elder Statesman“ im Dezember 2011, erstmals wieder seit 1998. Es war ein eindringlicher Appell, die Kriegszeiten nicht zu vergessen und die Schuldenkrise durch eine weitere Integration in Europa zu meistern. „Wir brauchen ein mitfühlendes Herz gegenüber unseren Nachbarn und Partnern - und das gilt ganz besonders für Griechenland“, sagte er. Und berichtete, wie er schon in jungen Jahren mit Loki SPD-Plakate gemalt habe.
2012 trug er dazu bei, dass Peer Steinbrück („Er kann es“) auf den Schild des SPD-Kanzlerkandidaten gehoben wurde. Es spricht für Schmidts' Wertschätzung für den damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier, dass er in dessen Wahlkreis in Brandenburg seinen einzigen und letzten Auftritt im Bundestagswahlkampf 2013 absolvierte. Es wurde eine Lehrstunde im Theater der Havelstadt.
Nach Seitenhieben gegen Erich Honecker ging es auch um die Zukunft. Er sorgte sich sehr um die künftige Stellung Europas, wegen des Bevölkerungswachstums und der Dynamik in Asien, gerade in China, das ihn faszinierte. „Sie haben einem uralten Mann zugehört. Sie müssen ihn nicht unbedingt ernst nehmen“, beendete er seine Ausführungen.
Bis zuletzt trieb ihn, ähnlich wie Literaturnobelpreisträger Günter Grass, die Gefahr eines Krieges in Europa um - vor allem wegen der Ukraine-Krise. „Das Machtgefüge der Welt ist insgesamt in Bewegung“, warnte Schmidt. Die heutige Generation müsse aufpassen, nicht wie 1914 wie Schlafwandler wieder in einen großen Krieg hineinzustolpern. Und auch wenn er nicht viel damit anfangen konnte, fürchtete er die Folgen der Umwälzung durch die digitale Revolution und die Verstädterung. „Hier wächst, potenziert durch die sozialen Netzwerke, die Gefahr der Verführbarkeit. Je mehr Menschen auf einem Fleck zusammenwohnen, desto leichter sind sie massenpsychologisch zu beeinflussen - auch und gerade durch falsche Vorbilder.“
Seine direkte, auf den Punkt formulierende Art brachte ihm schon früh den Spitznamen „Schmidt Schnauze“ ein. Im „Zeit“-Magazin wurde er 2010 mit einem seiner berühmtesten Zitate konfrontiert, das auf Willy Brandt gemünzt gewesen sein soll: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Er sei damals gefragt worden, wo denn seine eigene Vision sei. „Es war eine pampige Antwort auf eine dusselige Frage.“ Den Satz habe er ein einziges Mal gesagt. „Er ist aber tausendfach zitiert worden“, ärgerte sich Schmidt rückblickend. „Einmal hätte genügt.“