Der Mentor der Nation

Hamburg/Berlin (dpa) - Bis zuletzt hatte sein Wort Gewicht. Er stand so über den Dingen, dass er auf jedem Podium der Republik seine geliebten Mentholzigaretten rauchen durfte. Und Helmut Schmidt machte aus seiner Unzufriedenheit mit der heutigen Politik keinen Hehl.

„Es zeichnet politische Führer wie Churchill, de Gaulle oder Adenauer aus, dass sie nicht nur die nächste Wahl, sondern auch das langfristig Notwendige im Blick haben“, schrieb Schmidt im Anfang 2015 erschienenen Buch „Was ich noch sagen wollte“. „Der Trend, nur noch in Legislaturperioden zu denken, hat seither erheblich zugenommen.“

Im kollektiven Gedächtnis vieler Landsleute war der SPD-Politiker eine Idealbesetzung als Kanzler - der Pragmatiker scheute auch nicht den Konflikt mit seiner Partei, wenn es dem Land diente. Als „Mentor der Nation“ bezeichnete ihn sein langjähriger Weggefährte, der Journalist Theo Sommer. Am Dienstag starb Schmidt im Alter von 96 Jahren in seinem Haus in Hamburg.

Schmidt war eine prägende Figur der Bundesrepublik, die die Lehren aus der schrecklichen Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs in politisches Handeln umzusetzen versuchte. Er wurde ein Motor der europäischen Einigung. Den Hamburgern ist die Besonnenheit unvergesslich, mit der der Mann mit der Prinz-Heinrich-Mütze in seiner Heimatstadt die Flutkatastrophe von 1962 bewältigte.

Andere erinnern sich an die Entschlossenheit, mit der er sein Land durch die Wirren nach den Ölpreisschocks steuerte. Für viele bleibt das Bild des „Mannes von Mogadischu“, der der RAF die Stirn bot. Der Tod des entführten Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer, den Schmidt nicht gegen inhaftierte Terroristen austauschen wollte, lastete aber auf ihm.

Schmidts achteinhalbjährige Kanzlerschaft von 1974 bis 1982 verlief durch äußere Umstände eher glanzlos. Es ging weniger um ganz große Weichenstellungen wie bei Willy Brandt und dessen Ostpolitik, er prägte keine Ära - dafür wurde er als Altkanzler umso mehr verehrt. Zur Bilanz des „Machers“ gehören auch Versäumnisse. So konnte er wenig mit der aufkommenden Ökologiebewegung anfangen und trat für den Ausbau der Atomkraft ein. Er wurde damit zum Geburtshelfer der Grünen.

Der „von Geburt und aus Gesinnung“ überzeugte Hanseat wurde am 23. Dezember 1918 als Sohn eines Volksschullehrers in Hamburg-Barmbek geboren. Er besuchte die reformpädagogische Lichtwark-Schule, wo er 1929 seine spätere Frau, Hannelore „Loki“ Glaser kennenlernte. 1942 heiratete er Loki, die sich später in Deutschland als Botanikerin und Naturschützerin einen Namen machte. Der erste Sohn starb mit acht Monaten an einer Hirnhautentzündung. Schmidt war zu der Zeit im Krieg an der Front.

Nach kurzer britischer Gefangenschaft studierte er Volkswirtschaft und Staatswissenschaft. 1946 trat er der SPD bei, Tochter Susanne wurde 1947 geboren, 1953 wurde er in den Bundestag gewählt. Kurz nach der Rückkehr nach Hamburg als Innensenator bewies er bei der Sturmflut im Februar 1962 erstmals sein Talent als souveräner Krisenmanager, der sich in diesem Notfall auch über Vorschriften hinwegsetzte.

Danach verlief die Karriere stetig nach oben. 1965 stellvertretender SPD-Fraktionschef in Bonn, ein Jahr später - nach Bildung der Großen Koalition - Fraktionschef. Im ersten sozial-liberalen Kabinett wurde er Verteidigungsminister. 1972 übernahm er das Amt des Wirtschafts- und Finanzministers. Als Willy Brandt 1974 wegen der Affäre um DDR-Spion Günter Guillaume zurücktrat, wurde Schmidt am 16. Mai 1974 zum fünften Kanzler der Bundesrepublik gewählt. Praktisch von Beginn an forderte ihn der Terrorismus der Roten Armee Fraktion heraus. Im „Deutschen Herbst“ 1977 hielt die Entführung von Schleyer die Republik sieben Wochen lang in Atem. Als am 13. Oktober ein Palästinenser-Kommando zusätzlich die Lufthansa-Maschine „Landshut“ entführte, um die inhaftierte RAF-Führung freizupressen, bewies Schmidt Nervenstärke.

Die Operation im somalischen Mogadischu war dank des GSG-9-Einsatzes erfolgreich. Wäre es anders verlaufen, wäre Schmidt zurückgetreten. Damals erlebte der Kanzler, dessen Koalition mit der FDP 1976 mit 50,5 Prozent der Stimmen bestätigt wurde, einen Höhepunkt seiner Popularität. Vier Jahre später baute er die Mehrheit aus.

Kurz danach gerieten er und der linke SPD-Flügel aber wegen des Nato-Nachrüstungsbeschlusses zunehmend über Kreuz. Die FDP suchte den Absprung hin zur Union. Am 1. Oktober 1982 wurde Schmidt als erster Kanzler per Misstrauensvotum abgelöst, der Nachfolger hieß Helmut Kohl. Anschließend begann der Rückzug aus der Tagespolitik. 1987 gab Schmidt nach 33 Jahren sein Bundestagsmandat auf. Unbelastet von Ämtern gab der Mitherausgeber der „Zeit“ immer wieder Ratschläge.

68 Jahre war er verheiratet. „Loki war der Mensch in meinem Leben, der mir am wichtigsten war“, sagte er. Sie starb 2010, Schmidt wäre fast daran zerbrochen, gezeichnet verfolgte er die Trauerfeier im Hamburger Michel. Für Aufsehen sorgte er mit seinem späten Bekenntnis, einmal Loki untreu geworden zu sein. Sie bot nach seiner Schilderung die Trennung an, aber am Ende überwanden sie Krise.

Seine mitunter sehr direkte Art brachte ihm von Gegnern den Spitznamen „Schmidt Schnauze“ ein. Im „Zeit“-Magazin wurde er einmal mit einem der berühmtesten Zitate konfrontiert, das auf Willy Brandt gemünzt gewesen sein soll: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Den Satz habe er ein Mal gesagt. „Er ist aber tausendfach zitiert worden“, ärgerte sich Schmidt.