Report: Die Ära Gaddafi geht zu Ende

Tripolis/Istanbul (dpa) - „Jetzt hat der Aufstand begonnen - die Stunde Null ist gekommen“, raunen die Nachbarn in einem Stadtviertel im Zentrum von Tripolis einander zu. Vom Balkon aus schauen sie zu, wie Rebellen mit Waffen durch die Straße fahren.

Immer wieder sind Schüsse zu hören. Nicht alle Bewohner dieses Viertels sympathisieren mit den Rebellen. Trotzdem sind viele von ihnen erleichtert, dass die Zeit des Wartens ein Ende hat. Denn an einen Sieg der Gaddafi-Truppen glauben sie schon lange nicht mehr.

Die Rebellenführung hatte - um ein Massaker zu verhindern - mit einem Einmarsch in Tripolis gezögert. Stattdessen hatte sie auf einen Zusammenbruch des Regimes von innen gesetzt. Jetzt sieht es so aus, als gehe ihre Rechnung auf.

Angespornt von den Geländegewinnen der Rebellen rund um die Hauptstadt haben sich die bislang im Untergrund operierenden Gaddafi-Gegner von Tripolis erhoben und binnen weniger Stunden mehrere Stadtviertel unter ihre Kontrolle gebracht. Einige von ihnen waren in den vergangenen Monaten in den „befreiten“ Osten des Landes geflohen und hatten sich dort von den Kommandeuren der Rebellen an der Waffe ausbilden lassen. Dann waren sie wieder nach Tripolis zurückgekehrt - in Erwartung der „Stunde Null“. Jetzt sehen sie, dass die Aufständischen von Westen und Süden weiter vorrücken, kommen aus ihren Verstecken und greifen an.

Die Moral von Gaddafis Truppen erreicht derweil einen neuen Tiefpunkt. Denn dem Regime geht allmählich das Geld aus. Immer mehr Funktionäre und ehemalige Getreue Gaddafis verlassen das Land. Und wo sich der „Bruder Führer“ zur Stunde aufhält, wissen nur wenige Vertraute.

In Tripolis macht das Gerücht die Runde, er habe sich zum Al-Orban-Stamm in der Provinz Al-Dschabal Al-Gharbi abgesetzt - in der Hoffnung von dort über die Grenze nach Algerien zu gelangen. Denn spätestens, seitdem Tunesien am Samstag den Übergangsrat der Rebellen in Bengasi anerkannt hat, ist der Weg auch in dieses Nachbarland für Gaddafi versperrt.

Doch auch ob die Solidarität der algerischen Führung so weit geht, dass sie Gaddafi Asyl gewähren würden, ist nicht klar. Zwar gibt es aus den vergangenen Monaten mehrere glaubwürdige Berichte über logistische Unterstützung aus Algerien für Gaddafis Truppen. Doch nach Einschätzung arabischer Beobachter ging es der algerischen Regierung nur darum, zu verhindern, dass noch ein arabischer Herrscher gestürzt wird. Sobald Gaddafi keine Macht mehr hat, wäre der „Irre aus Tripolis“, der vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag als mutmaßlicher Kriegsverbrecher gesucht wird, für sie nur noch eine Belastung.