Report: Eine tief verunsicherte Partei
Leipzig (dpa) - Sigmar Gabriel rauscht an Lars Winter vorbei, haut ihm im Vorbeigehen noch auf die Schulter und sagt: „Schimpf nicht so.“
Winter ist Kreisvorsitzender der SPD Ostholstein und redet als einer der wenigen beim Bundesparteitag in Leipzig auf dem Podium Tacheles. Er schätzt den SPD-Chef, aber er fürchtet eine Halbierung der Mitgliederzahl, wenn die SPD in die große Koalition mit der Union eintritt. „Dann sind wir bald keine Volkspartei mehr.“
„Gregor Gysi ist ja nicht dumm, der wird reihenweise Anträge im Bundestag einbringen mit Ideen, die in unserem Wahlprogramm stehen. Und die müssen wir dann aus Koalitionsräson ablehnen“, meint Winter, der auch Abgeordneter im Landtag von Schleswig-Holstein ist. Der Fraktionschef der Linken würde die SPD vor sich hertreiben, fürchtet er. „Wir müssen das dann ablehnen, das wird uns zerreißen.“ Für ihn ist es ein Horror, das im Wahlkampf hart bekämpfte Betreuungsgeld für Eltern, die ihr Kind nicht in die Kita geben, künftig vertreten zu müssen. Die SPD beschimpft die Leistung als Herdprämie.
Sein Kreisverband will daher die große Koalition ablehnen. Beim Parteitag in Leipzig wird die weit verbreitete Skepsis noch einmal überdeutlich - so langsam wächst die Sorge, dass die Abstimmung der 473 000 Mitglieder über den Koalitionsvertrag mit der Union in die Hose gehen könnte. Das Ergebnis soll bis zum 15. Dezember verkündet werden - also drei Tage vor dem Datum, an dem Willy Brandt 100 Jahre alt geworden wäre. Eine bittere Schlusspointe eines Jahres, in dem die SPD angesichts der Feierlichkeiten zum 150-jährigen Bestehen der deutschen Sozialdemokratie viel in Nostalgie schwelgte.
Aber in der Gegenwart wird die Partei von vielen offenen Fragen gequält: Wofür steht man noch? Wie kann man wieder den Kanzler stellen und Wähler von sich überzeugen? Gabriel kritisiert recht schonungslos eine wachsende Kluft von „kleinen Leuten“ und ihren Sorgen, das richtet sich durchaus auch an die eigene Funktionärsebene.
Leipzig ist ein Denkzettel-Parteitag: Gabriel bekommt bei der Vorstandswahl 83,6 Prozent, Generalsekretärin Andrea Nahles nur 67,2 Prozent - für beide ihr bisher schlechtestes Ergebnis in vier Jahren Amtszeit. „So hättet Ihr mit Andrea nicht umgehen sollen“, meint Schatzmeisterin Barbara Hendricks. Nahles drückt sich eine Träne weg, sie rackert sich seit Monaten ab, sieht ihre kleine Tochter und ihren Mann in der Eifel kaum. Nach dem Wahlkampf organisiert sie nun den Mitgliederentscheid, steuert die Koalitionsverhandlungen und leitet dabei noch die Arbeitsgruppe Arbeit, in der sie für die SPD einen Mindestlohn von 8,50 Euro rausholen soll, ja eigentlich muss.
Abgestraft wird auch Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz bei der Wiederwahl als einer der fünf Stellvertreter Gabriels. Sollte er sich jemals Hoffnungen auf das Amt des SPD-Vorsitzenden oder künftigen Kanzlerkandidaten gemacht haben, könnte Leipzig ein Ende solcher Träume bedeuten. Er kommt nur auf 67,3 Prozent. SPD-Kreise führen sein Ergebnis auch auf seine Flüchtlingspolitik zurück. 80 Afrikaner, die über die italienische Insel Lampedusa nach Hamburg kamen, fanden Unterschlupf in der St.-Pauli-Kirche. Forderungen nach einem generellen Daueraufenthaltsrecht werden bisher abgelehnt.
Aber Scholz ist auch derjenige, der sich enorm einbringt in die Verhandlungen mit der Union, Kanzlerin Angela Merkel (CDU) lobt ihn. Der einzige, der in Leipzig gefeiert wird, ist Martin Schulz, der sozialdemokratische Spitzenkandidat für die Europawahl im Mai, der mit 97,9 als Europa-Beauftragter der SPD bestätigt wird. Es regiert ein gewisses Misstrauen, die Führung muss nun in den weiteren Koalitionsverhandlungen der Union viel abtrotzen, sonst droht das Undenkbare beim Mitgliedervotum: ein Nein.
Die SPD ist in Leipzig auf Sinn- und Profilsuche. Das bringt niemand so gut auf den Punkt wie Ex-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück. „Es muss sich gut anfühlen, die SPD zu wählen“, gibt er seiner Partei mit auf den Weg. Dahinter steckt der Befund, dass nicht mehr genug Menschen der SPD zutrauen, das Land nach vorne zu bringen, Jobs zu schaffen, glaubhaft für mehr soziale Gerechtigkeit einzutreten.
Eine große Koalition wird in diesem Stadium von vielen Mitgliedern als kontraproduktiv gesehen. Kompromiss statt Klartext, fürchten sie. Der Mannheimer Delegierte Roman Götzmann war schon mit geringen Erwartungen nach Leipzig gereist. Eigentlich erhoffe er sich immer eine gewisse Motivation oder Orientierung von solchen Konferenzen, sagt er. Diesmal sei das anders. „Wir sind irgendwo zwischen Borke und Baum“, meint er mit Blick auf die Koalitionsverhandlungen. „Man fügt sich eher, als dass man das anstrebt.“
Die Münchner Sozialdemokratin Stephanie Jung beschwert sich, dass der Parteitag zur falschen Zeit stattfinde - „weil wir noch nicht wissen, worüber wir reden“. Ein Ja beim Mitgliederentscheid hält sie nicht für sicher. „Es wird sich an Symbolen festmachen“, sagt sie und meint damit mögliche SPD-Trophäen wie den Mindestlohn. Götzmann rechnet eher mit einer Zustimmung der Mitglieder. Dennoch wird er am Samstag aus Leipzig mit dem Gefühl abreisen, „dass das Spannendste noch vor uns liegt“. Lars Winter von der SPD Ostholstein rechnet mit einem knappen Ausgang beim Votum: „Das steht Spitz auf Knopf.“
Leipzig ist ein Bundesparteitag im Nirwana. Wohin will die SPD marschieren? Steinbrück betont, die SPD müsse sich um eine Renaissance der sozialen Marktwirtschaft kümmern, um den Schutz der Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen. „Ich sage sehr bewusst auch: Schnappen wir uns den Begriff des Liberalismus in seiner Ursprünglichkeit, den die FDP preisgegeben hat.“ Auch Olaf Scholz schlägt in diese Kerbe. Er fordert mehr Wirtschaftsprofil, hier ist die SPD ziemlich blank. Die Union liegt laut Demoskopen in Punkten wie Wirtschaftskompetenz und Finanzsachverstand deutlich vorn.
Andere fordern statt einer Politik der Mitte die rasche Öffnung zur Linkspartei. Um Druck aus dem Kessel zu nehmen wird beschlossen, bei der nächsten Bundestagswahl die Ausschließeritis in Sachen Rot-Rot-Grün zu beenden. Auch weil SPD und Grüne im Bund derzeit allein keinerlei Machtperspektive haben. „Wir müssen diese Volkspartei immer wieder neu erfinden“, meint Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig. Die offene Frage von Leipzig lautet: Aber wie?