Report: „Sieg über die Angst“ - Wunsch nach Neuwahlen
Moskau (dpa) - Zehntausende Menschen in Moskau besiegen ihre eigene Angst vor der russischen Staatsmacht und gehen für freie und faire Wahlen auf die Straße.
Solche politischen Massenproteste, die Rede ist von bis zu 100 000 Demonstranten, hat die Hauptstadt seit dem Machtantritt von Wladimir Putin vor knapp zwölf Jahren nie gesehen. Vor allem der Ärger über die Wahlfälschungen durch Putins Partei Geeintes Russland treibt die Menschen auf die Strafe.
Immer wieder erzählen die Menschen, dass sie auf der Arbeit über die Wahlen vor einer Woche sprechen - aber niemand will sie gewählt haben, die im Volk sogenannte „Partei der Diebe und Gauner“. Von der Bühne auf dem überfüllten Bolotnaja-Platz im Zentrum gibt es sie auch, die Rufe der Opposition: „Russland ohne Putin“. Aber sie überwiegen nicht.
Die meisten Menschen sind einfache und enttäuschte Bürger - anders als bei den kaum besuchten Oppositionsprotesten der Vergangenheit. Sie fordern ihr Recht auf ehrliche Wahlen ein. „Ich war seit den 1990ern nicht mehr auf der Straße, damals haben wir gegen die Kommunisten protestiert. Aber die Geduld vieler ist wieder an einem Endpunkt angelangt“, sagt die 68 Jahre alte Sinaida.
Was die Übersetzerin am meisten erstaunt, sind die vielen Hundertschaften der Polizei und die schweren Gefängniswagen. Über dem Platz schwebt ein Polizeihubschrauber, auf der Moskwa kreisen Polizeiboote. „Eine unfassbare Drohkulisse, die es erst seit Putin gibt“, sagt Sinaida.
Der Volkszorn vieler Menschen auf dem Platz ist am Samstag fast mit den Händen greifbar. Junge und ältere Moskauer lassen ihrem Unmut freien Lauf über die nach Angaben der Opposition „schmutzigsten Wahlen“ seit Sowjetzeiten. Tatsächlich gelingt es der zersplitterten und in Teilen auch zerstrittenen Opposition diesmal, die Massen zu einen und für Straßenproteste zu mobilisieren.
Vor allem über das Internet sowie über Mundpropaganda haben die Menschen von der für 30 000 Teilnehmer offiziell genehmigten Großkundgebung erfahren. Aber es sind deutlich mehr, die trotz leichten Schneetreibens und insgesamt ungemütlichen Wetters gekommen sind. Es sind Menschen ganz unterschiedlicher politischer Überzeugung. Viele bekannte Kremlkritiker fehlen aber, weil sie nach spontanen Protesten im Gefängnis sitzen.
„Klar hatte ich Angst hierherzukommen. Aber es reicht! Wir lassen uns nicht mehr erniedrigen. Wir sind keine Hammelherde, die stumm und dumm hinter allem hertrottet, was die Machthaber hier tun“, sagt die 24-jährige Ina Finotschka. An ihrer Jacke kleben Russland-Fahnen mit der Aufschrift: „Ich bin gegen Revolution!“ Sie und ihre Freundinnen hätten sich noch nie auf Kundgebungen der Oppositionsbewegungen wie Solidarnost oder Anderes Russland gewagt.
Auch die gewaltsam aufgelösten Proteste gegen die Wahlen in den vergangenen Tagen und die Massenfestnahmen schrecken weiter viele Moskauer ab, auf die Straße zu gehen. Doch die meisten in dem Menschenpulk äußern die Hoffnung, dass der Kreml die Signale des Volkes erkennt und dies als Warnung nimmt. Dass alles friedlich abgelaufen ist, wollen viele Demonstranten ihren Freunden weitersagen, die mit dem Protest auf der Straße noch zögern.
Der Druck der Straße soll weiter wachsen. Als Hauptfeind nennen die Demonstranten den von Putin eingesetzten Wahlleiter Wladimir Tschurow, der zurücktreten solle. Immer wieder fordern die Redner von der Bühne auch die Freilassung der zu Arreststrafen verurteilten politischen Gefangenen. „Wir wollen kein Blutvergießen. Wir wollen keine Revolution. Wir wollen ehrliche Wahlen“, ruft der prominente Schriftsteller Boris Akunin.
Ehrliche Wahlen - das bedeutet für die Demonstranten auch, dass demokratische Oppositionskräfte zugelassen werden und die vom Kreml gesteuerten Medien Andersdenkende zu Wort kommen lassen. Der prominente Journalist Alexej Piwowarow vom Staatssender NTW droht damit, keine Nachrichten mehr zu moderieren, wenn die Proteste weiter unerwähnt blieben. Am Abend zeigt das Fernsehen sie dann doch, die größten Straßenproteste, die es je gegeben hat unter Putin.