Report: Tränen und Vergeltung

Istanbul (dpa) - Der Putsch gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan ist niedergeschlagen, doch von einer Rückkehr zur Normalität kann in der Türkei keine Rede sein.

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Während die vielen Toten zu Grabe getragen werden, ist das Land noch in einer Art Schockzustand - die Anspannung ist auch heute fast mit Händen zu greifen. Erdogan ruft das Volk über Twitter auf, die „Demokratie-Wachen“ gegen mögliche weitere Putschisten fortzusetzen: „Aufhören gilt nicht, Weggehen gilt nicht. Wir lassen die Plätze nicht leer.“ Öffentliche Verkehrsmittel fahren gratis, um möglichst viele Menschen auf diese Plätze zu schaffen.

In Istanbul werden 1800 Spezialkräfte der Polizei mit gepanzerten Fahrzeugen zusammengezogen, um strategisch wichtige Einrichtungen und Straßen zu schützen. Der Polizeichef der größten Stadt des Landes gibt den Befehl aus, unbekannte Hubschrauber abzuschießen - ohne Vorwarnung. Auf dem Bosporus liegt ein Schiff der Küstenwache, das die Meerenge nachts mit Suchscheinwerfern ableuchtet. Im türkischen Luftraum fliegen F16-Kampfjets Patrouille.

In Ankara - wo die Putschisten aus den Reihen der Streitkräfte mit gekaperten Kampfflugzeugen unter anderem das Parlament bombardierten - kommt erstmals wieder das Kabinett zusammen. Ministerpräsident Binali Yildirim bricht in der Runde seiner Kollegen und vor laufenden Kameras in Tränen aus, als er über den Putschversuch spricht, der nach seinen Angaben mehr als 230 Menschen das Leben gekostet hat.

„Mein zwölfjähriger Enkel fragte: "Großvater, sind das nicht unsere Soldaten? Warum töten sie Menschen?" Ich war nicht in der Lage, ihm eine Antwort zu geben.“ Yildirim kündigt an, die Verantwortlichen würden zur Rechenschaft gezogen. Der Ministerpräsident hält aber keine Kampfesrede, sondern mahnt zur Besonnenheit. Er warnt vor Pauschalurteilen gegen die Armee, die er den „Augapfel“ der Türkei nennt. Und er findet Worte, die darauf abzielen, die tiefen Gräben in der türkischen Gesellschaft zu überwinden.

Yildirim bedankt sich erneut bei der Opposition im Parlament für deren Unterstützung in der dramatischen Nacht. „Wir alle zusammen sind die Türkei“, sagt er. Der Regierungschef nennt dabei - nach kurzem Zögern - sogar ausdrücklich die pro-kurdische HDP. Erdogan vermeidet es in der Regel, die drei Buchstaben auszusprechen. Er bezeichnet die ihm verhasste Partei meist nur als „Verlängerung“ der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK im Parlament.

Yildirim, kein glänzender Rhetoriker, hält eine bemerkenswert mäßigende Rede. Eigentlich ist die einende, aussöhnende Rolle in anderen Ländern auf den Staatspräsidenten zugeschnitten, doch das ist Erdogans Stil eher nicht. Er hält den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen für den Drahtzieher des Putschversuches. Erdogan setzt Gülens Anhänger mit Krankheitserregern gleich - und kündigt einen „Säuberungsprozess von diesen Viren“ an.

Und die Rosskur beginnt sofort. Mehr als 13 000 Staatsbedienstete werden suspendiert, darunter fast 8000 Polizisten und über 2700 Justizangehörige - in Polizei und Justiz wird Gülen großer Einfluss nachgesagt. Mehr als 750 Richter und Staatsanwälte werden festgenommen. Und natürlich trifft es vor allem die Armee, aus deren Reihen die Putschisten kamen: Mehr als 6000 Soldaten führt die Polizei ab. Darunter sind mehr als 100 Generäle - von denen die zweitgrößte Nato-Armee insgesamt nur knapp 350 hat.

Haftbefehl erlassen wird unter anderem gegen Ex-Luftwaffenchef Akin Öztürk, der der Rädelsführer der Putschisten in der Türkei gewesen sein soll. Ein Regierungsvertreter nennt das bisherige Mitglied im Obersten Militärrat „den formalen Anführer der Junta“.

Öztürk und andere festgenommene Generäle - alle noch nicht verurteilt - werden der Öffentlichkeit wie geprügelte Hunde vorgeführt: In der Polizeistation, wo sie Namen und Rang verkünden müssen, läuft eine Kamera mit, das Video wird von der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu verbreitet. Tatsächlich weisen die Männer fast alle blutige Spuren auf, die aussehen, als wären sie geprügelt worden.

Der Kopf der Generäle, die gewohnt waren, ihr Haupt stolz nach oben zu recken, wird von Polizisten nach unten gedrückt, während die Offiziere durch die Wache eskortiert werden. „Seid Ihr jetzt glücklich?“, ruft ein Polizist den Festgenommenen zu. Die Generäle werden im Flur an die Wand gestellt, mit den Augen zur Mauer. Manche von ihnen tragen noch Tarnfleckhosen, ihre Hände sind mit Kabelbindern auf den Rücken gefesselt.

Nach und nach müssen die Generäle in den Raum, wo sie Angaben zur Person machen. Sie sind verängstigt, wer nicht in die Kamera schaut, wird angeblafft. Glaubt man der unter Erdogan-Gegnern verbreiteten Verschwörungstheorie, wonach der Putschversuch inszeniert gewesen sein soll, hätten diese Generäle mit dem Präsidenten unter einer Decke stecken müssen. Keiner von ihnen sieht aus, als habe er von der Niederschlagung des Putsches profitiert - ganz im Gegenteil.

Nicht einmal Erdogans größter Gegner im Parlament - HDP-Chef Selahattin Demirtas - hat Zweifel daran, dass tatsächlich Militärs versuchten, die Macht an sich zu reißen. „Dass es sich um einen militärischen Putschversuch handelt, liegt auf der Hand“, sagt Demirtas der kurdischen Zeitung „Yeni Özgür Politika“. Und ein Regierungsvertreter meint zu der Verschwörungstheorie: „Dieser Vorwurf ist nicht seriöser als der, dass 9/11 ein Insider-Job war oder dass Barack Obama ein heimlicher Muslim aus Kenia ist.“