Report: Vom Straflager ins „Adlon“?
Berlin (dpa) - Der Mann mit dem gelben Pullunder weiß, wie man diplomatische Erfolge in Szene setzt. Hans-Dietrich Genscher war wesentlich daran beteiligt, Putin-Gegner Chodorkowski nach Berlin zu holen.
Der alte Fuchs hat wieder einen Coup gelandet. Während alle noch über die unsichere Zukunft des ehemaligen russischen Öl-Milliardärs Michail Chodorkowski spekulierten, hatte ihn Hans-Dietrich Genscher längst nach Deutschland gelotst. Der 86-Jährige holte ihn persönlich am Flughafen Berlin-Schönefeld ab - noch bevor die Fotografen in Position waren, um das an diesem Tag begehrteste Bild zu schießen. Chodorkowski kam mit einem Firmenflugzeug nach Berlin, das Genscher organisiert hatte - direkt aus einem russischen Straflager.
Immerhin ging Genscher, wenn auch nur kurz, ans Handy. Es ist 15.40 Uhr, als er auf die Frage, ob Chodorkowski neben ihm im Wagen sitze, knapp, aber bestimmt sagte: „Ja, das bestätige ich.“ Beide waren auf dem Weg in die Berliner Innenstadt. Genscher erzählte den ARD-Tagesthemen später: „Ich habe im Auto, obwohl ich Russisch nicht verstehe, die Gespräche miterlebt mit seinen Familienangehörigen, das war schon anrührend.“ Und: „Ich glaube, dass er jetzt durchatmen wird und darauf warten wird, dass er morgen seine Familie in die Arme schließen kann.“
Ohne eine Bestätigung dafür erhalten zu haben, gehen Beobachter davon aus, dass Chodorkowski im Berliner Hotel „Adlon“ logiert. Zumal Genscher um 17.05 Uhr eben dieses Hotel verließ - im schwarzen Mantel, durchs Revers leuchtete das Genscher-typische Gelb. Als ihn die Journalisten umzingelten, blieb er wortkarg. Ja, Chodorkowski sei in Berlin. Nein, er wolle nicht mehr sagen. Es gebe dazu eine - nüchterne - Pressemitteilung. Und dann fuhr er in einer schwarzen Limousine davon.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die sich selbst wiederholt um die Freilassung Chodorkowski bemüht hatte, würdigte den Einsatz des Ex-Außenministers hinter den Kulissen. Genschers Rolle - mit Unterstützung Merkels und des Auswärtigen Amts - war so geheim, dass wohl selbst die FDP von den Aktivitäten ihres Ehrenvorsitzenden überrascht wurde.
Genscher hatte den einst reichsten Mann Russlands als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (2001 bis 2003) kennengelernt. Dessen Anwälte hätten ihn dann um Unterstützung gebeten. Zweimal habe er deswegen mit Chodorkowskis Gegner, Russlands Präsident Wladimir Putin, reden können.
Am Freitagmorgen konnte der 50-jährige Chodorkowski dann nach zehn Jahren Haft das Straflager verlassen - ein gutes halbes Jahr früher als bisher erwartet. Putin hatte seinem Gnadengesuch entsprochen. Chodorkowski beeilte sich darauf hin klarzustellen, dass entgegen den Vermutungen keine Absprache über ein Schuldeingeständnis als Bedingung für seine Begnadigung getroffen worden sei.
Der Kremlkritiker habe darum gebeten, nach Berlin zu reisen, weil in Deutschland seine an Krebs erkrankte Mutter behandelt werde, hieß es in Russland. Die alte Dame ist nach eigenen Angaben zur Zeit zwar noch in Russland, wird aber wohl zur weiteren Behandlung rasch in Deutschland zurückerwartet.
Trotz dieser Erklärungen wurde spekuliert, weshalb Chodorkowski, der frühere Chef des einst größten russischen Ölkonzerns Yukos, nach Berlin gekommen ist. Menschenrechtler haben Chodorkowski, der immer wieder die Korruption in seiner Heimat angeprangert hatte, bereits eine führende Rolle beim Aufbau der Zivilgesellschaft in Russland angeboten. Ob sich dieser aber dort politisch wieder betätigen kann oder sein Aufenthalt im Ausland eher zu einem Exil wird, ist offen. Nicht verwunderlich wäre, wenn er nach zehn Jahren im Lager jetzt selbst ärztliche Behandlung in Anspruch nähme.