Report: Zehntausende vereint in Trauer um Nemzow
Moskau (dpa) - Sie schwenken russische und ukrainische Fahnen und halten Plakate mit der Aufschrift „Helden sterben nie“ in die Höhe.
In tiefer Trauer über den kaltblütigen Mord an dem Oppositionspolitiker Boris Nemzow ziehen Zehntausende an diesem feuchten und kalten Märztag durch Moskau - eine riesige Menschenmenge, in Schmerz vereint. „Es ist, als sei ein naher Mensch gestorben“, sagt der 53-jährige Iwan. Seit den 1990er Jahren habe er Nemzow als aufrichtigen und charismatischen Politiker erlebt, sagt der Mitarbeiter eines wissenschaftlichen Instituts.
Geplant war an diesem Sonntag eigentlich ein Protestmarsch der Opposition gegen Kremlchef Wladimir Putin - am 1. März, am Frühlingsbeginn. Nun ist ein Trauermarsch für Nemzow daraus geworden. Vier tödliche Schüsse trafen den Kremlkritiker in der Nacht zum Samstag in den Rücken. Der 55-Jährige starb noch am Tatort - auf der Großen Moskwa-Brücke, ganz nah am Kreml. Bereits am Samstag legten EU-Diplomaten dort Blumen nieder. „Dieser hinterhältige und kaltblütige Mord schadet Russland“, sagt der deutsche Botschafter Rüdiger Freiherr von Fritsch dabei der Deutschen Presse-Agentur.
Auch am Sonntag zieht die Menge an dieser Stelle vorbei. „Kein russischer Frühling“, steht auf einem Plakat. „Der Winter ist nach Moskau zurückgekehrt. Über Nacht, am letzten Tag im Februar.“ Der Radiosender Echo Moskwy schätzt die Zahl der Demonstranten auf etwa 55 000. Der Platz, auf dem die Menschen Aufstellung nehmen zum Trauermarsch, kann die Menge bei weitem nicht fassen. In den Nebenstraßen drängen sich auch bekannte Putin-Gegner wie die Künstlerin Nadeschda Tolokonnikowa von der kremlkritischen Punkband Pussy Riot. Nur vereinzelt sind Rufe wie „Russland ohne Putin“ zu hören. Ansonsten ist es ungewöhnlich still für eine solche Menge.
Hundertschaften der Polizei sind im Einsatz, überall stehen Metallgitter. Am Himmel kreist ein Hubschrauber. Doch die Lage bleibt friedlich. Was die Menschen vereint, ist die Sorge um die Zukunft des Landes. Mit Nemzows Tod fehlt Russland eine wichtige Stimme.
Entlang des Flusses, unter blattlosen Bäumen, macht die Menge sich auf den Weg zur Großen Moskwa-Brücke. Es ist ein schwerer Gang zum Tatort, vor allem wohl für Nemzows Mitstreiter wie Michail Kasjanow - der Oppositionsführer und Ex-Regierungschef geht in der ersten Reihe. „Dieser Marsch ist ein Lebenszeichen des Russlands jenseits von Putins Machtapparat“, meint Kasjanow. „Die Menschen fürchten sich. Und jetzt ist ein Mensch ermordet worden, damit sich andere noch mehr fürchten“, sagt neben ihm der frühere Abgeordnete Gennadi Gudkow.
Rote Nelken, viele Rosen und weiße Chrysanthemen sind in den Händen der Menschen zu sehen. Viele sind sich einig, dass es im Kreml innere Machtkämpfe gebe. „Für Putin ist dieser Mord doch mehr als schädlich“, meint eine 73-Jährige. Zumindest in dieser Gruppe von Demonstranten herrscht die Meinung vor, Nemzows Tod sei ein innenpolitisches Problem. „Es gibt viele im Machtapparat, die eine neue Sowjetunion, einen totalitären Staat errichten wollen“, sagt eine Frau. Sie vermutet, dass dieses Lager immer stärker wird - und die liberale Kräfte schwächer werden.
Bei dem Frühlingsmarsch in Moskau, der ersten großen Oppositionsaktion dieses Jahres, wollte auch Nemzow auftreten - ein organisierter Protest gegen Putins Ukraine-Politik, die aus Sicht des Kremlgegners Russland in den Abgrund stürzt. Ein Killer, der noch auf der Flucht ist, stoppte ihn. Das Staatsfernsehen zeigt, wie Ermittler in der Dunkelheit den entblößten Oberkörper des früheren Vizeregierungschefs untersuchen. Die Bluttat in Sichtweite des Kreml - mitten im Herzen der russischen Hauptstadt - löst in blitzartiger Schnelle landesweit und international Entsetzen aus.
Russland steht unter Schock. Wieder stirbt ein namhafter Kremlgegner. Der eiskalte Mord erinnert an die tödlichen Schüsse im Jahr 2006 auf die regierungskritische Journalistin Anna Politkowskaja, die vor ihrer Wohnung starb - am 7. Oktober, Putins Geburtstag. Auch damals warf die Opposition dem Kremlchef vor, mit Kritik und Hohn über Andersdenkende erst den Nährboden für solche Taten zu schaffen. „Aus Sicht des Kremls sind Russen, die ihr Land kritisieren, doch nur vom Westen durchgefütterte Vaterlandsverräter“, sagt Kasjanow.
Nemzow habe wiederholt Morddrohungen dafür erhalten, dass er Putin etwa eine „tödliche“ Ukraine-Politik vorgeworfen habe, sagt der Oppositionspolitiker dem TV-Sender Doschd. Ob er sich gefährdet fühle, will der Moderator zum Schluss wissen. Kasjanow zuckt mit den Schultern. „Der Tod von Boris zeigt: Keiner, der sich gegen Putin stellt, kann sich sicher fühlen“, sagt der Ex-Regierungschef dann.