Reportage: „Nach Slawjansk? Da ist Krieg!“

Slawjansk (dpa) - Im Südosten der Ukraine sterben immer mehr Menschen bei Kämpfen regierungstreuer Soldaten mit prorussischen Kräften. In Slawjansk, dem Zentrum des Widerstandes gegen die Regierung in Kiew, leiden die Bürger.

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Es herrscht Angst in Slawjansk. Nachts gellen Schüsse durch die ostukrainische Stadt, Hubschrauber kreisen und Sirenen heulen. Dann verstecken sich viele Bürger in ihren Kellern. An friedliche Feiertage zum Maibeginn ist hier nicht zu denken - auch wenn am Wochenende die acht Tage lang festgesetzten Militärbeobachter unversehrt wieder abreisen konnten.

Immer mehr Menschen, auch Zivilisten, werden Opfer blutiger Gewalt. „Sie sind gekommen, um uns zu erschießen“, sagt der 30 Jahre alte Sergej Gutorow im Slawjansker Stadtteil Andrejewka. Er hält eine Patrone in der Hand.

Seit Regierungstruppen die Stadt umzingelt haben, kommt das öffentliche Leben zunehmend zum Erliegen. „Wir haben Vorräte. Aber frisches Brot gibt es zum Beispiel nicht“, sagt eine Ukrainerin. Jeder versuche, trotz der Angst so weit wie möglich dem Alltag nachzugehen.

Die von den USA und der EU unterstützte Zentralregierung in Kiew hat die Truppen geschickt. Sie sollen aufräumen. „Anti-Terror-Operation“ heißt das offiziell - um zu verhindern, dass dieser vergleichsweise wohlhabende Landesteil sich komplett abspaltet. Slawjansk ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Eisenbahnverbindungen führen in viele Richtungen, auch zu der im März an Russland angeschlossenen Schwarzmeerhalbinsel Krim.

Auf einer blockierten Brücke stehen Dutzende schwer bewaffnete ukrainische Soldaten mit Panzerfahrzeugen und Gefechtswagen. Der Boden ist pechschwarz, Reifen brennen, von niedergebrannten Barrikaden der Aufständischen ist stellenweise nur noch Asche übrig.

Doch andernorts entstehen sofort neue Bollwerke, aus Sandsäcken und Autoreifen. Geschäftsleute helfen mit Baumaterial und Fahrzeugen aus. Regierungsgegner haben in der Region eine fiktive „Volksrepublik Donezk“ ausgerufen - oder eine „Donezker Föderative Republik“, wie auf einem Aufkleber zu lesen ist. In vielen Orten neben Slawjansk haben die Separatisten bereits öffentliche Gebäude besetzt - oft beschützt von schwer bewaffneten Uniformierten.

„Die Waffen haben wir in den Waffenkammern besetzter Geheimdienstgebäude oder der Miliz ergattert“, sagt einer dieser maskierten Uniformierten. Seinen Namen nennt er nicht. Er sei vor dem Aufstand Manager gewesen, sagt er. „Jetzt bin ich hier, um die Volksrepublik Donezk zu verteidigen.“

Am 11. Mai soll es im Raum Donezk ein Referendum geben über die Unabhängigkeit von Kiew. Aber wie diese Abstimmung ablaufen soll, kann keiner sagen. Sicher sind sich die meisten Menschen hier nur, dass die von Kiew angesetzte, vorgezogene Präsidentenwahl am 25. Mai in der Region quasi ausfallen wird. Diese Wahl kümmert niemandem hier.

Die Polizei sei „mit dem Volk“, ist oft zu hören. Tatsächlich lässt sie die „Selbstverteidigungskräfte“ gewähren. „Nach Slawjansk? Dann passen Sie auf, da ist Krieg!“, sagt ein Polizist auf dem Weg zur Stadt. Die ganze Region ist im Ausnahmezustand.

Immer wieder drängen Regierungstruppen Aufständische zurück, nehmen mit Feuergewalt besetzte Gebäude unter ihre Kontrolle. Doch Friede kehrt nicht ein. Der Volkszorn wächst scheinbar mit jedem neuen Toten. Was eine Seite erobert hat, kann die andere schnell zurückerobern und so weiter. Zumindest auf der Straße ist keiner zu treffen, der die Regierung in Kiew unterstützt.

„Sie sagen, sie wollen Slawjansk befreien von Separatisten und Terroristen. Aber niemand hat sie gerufen“, schimpft der 30-jährige Sergej im Stadtteil Andrejewka.

Dass in der Ex-Sowjetrepublik nun schon seit Monaten - erst in Kiew, nun auch in der ostukrainischen Provinz - blutige Gewalt herrscht, sehen nicht wenige als Werk einer „Marionettenregierung, die von den USA gesteuert wird“. Die Führung in Kiew hingegen gibt mal dem gestürzten Staatschef Janukowitsch, mal den ukrainischen Oligarchen, meistens aber Russland die Schuld an den Exzessen.

Die meisten Menschen wollen jedoch gar nicht über Politik nachdenken. „Nachts nicht mehr diese Kämpfe - das wollen wir“, sagt Tatjana aus dem von militanten prorussischen Kräften besetzten Zentrum von Slawjansk. Sie verlässt mit ihrem zweijährigen Sohn gerade die Stadt wegen einer lange geplanten Operation für das Kind in Braunschweig.

„Es ist kaum noch zu verstehen, was falsch, was wahr ist: Die Leute wissen nur, dass sie zusammenstehen müssen“, meint die Buchhalterin. „Niemand schützt uns. Aus Angst ziehen sich die meisten in ihre Häuser zurück, in die Keller. Hier sterben unsere Leute.“

Auf Anhieb ist auch niemand im Ort zu finden, der für den selbst ernannten „Volksbürgermeister“ Wjatscheslaw Ponomarjow seine Hand ins Feuer legen würde. „Er ist zwar einer von hier, kam aber wie aus einer Versenkung“, sagt eine Anwohnerin.

Auch wenn Ponomarjow nun die festgehaltenen deutschen und anderen Militärbeobachter freigelassen hat, so hält er Menschenrechtlern zufolge immer noch Geiseln, darunter ukrainische Journalisten. Michail Konowalow, ein Psychologe und Aktivist bei der Organisation Amnesty International, beschreibt in einem Bericht, wie Maskierte ihn auf der Straße mit einer Waffe bedroht, auf die Knie gezwungen und dann an den Händen gefesselt hätten. „Ich hatte Angst“, sagte Konowalow nach seiner Freilassung.

In der Stadt wird viel über Gewalt der bewaffneten Uniformierten gegen die Bürger von Slawjansk geredet. „Ich habe gehört, dass Ponomarjow mit vorgehaltener Waffe Geschäfte beschlagnahmt und Privatvermögen zum Volkseigentum erklärt hat“, sagt ein Bewohner.

Die Wahrheit ist in diesem Konflikt zwischen Moskau und Kiew, der auch ein Informationskrieg ist, schwer zu finden. „Was können wir dafür, wenn die USA und Russland die Ukraine mit ihren Händen in Stücke reißen wollen“, sagt ein Regierungssoldat an der Brückenblockade in Andrejewka. Der Uniformierte reagiert ruhig auf das Geschrei einer Frau mit einer Opferkerze in der Hand - „Haut ab aus unserem Land - zurück zu Eurer Junta in Kiew. Das ist unser Boden.“

Die Frau schimpft, dass die nicht gewählte Führung in Kiew gegen die Gesetze in dem Konflikt die Armee einsetze. „Wir werden nicht auf unbewaffnete Bürger schießen“, versichert der Soldat in ruhigem Ton. Der Lauf seiner Maschinenpistole ist nach unten gerichtet. Hinter den Bewohnern liegt gerade eine weitere Nacht mit Gefechten.

„Russland, Russland“, rufen hier einige Anhänger der fiktiven „Volksrepublik Donezk“. Gemeint ist aber nicht der Beitritt zum Nachbarland. Dafür sprechen sich laut Umfragen aus Kiew nur rund 27,5 Prozent der Bewohner im Donezker Gebiet aus. Kremlchef Wladimir Putin solle vielmehr helfen und die schon an der ukrainischen Grenze stehenden Truppen schicken, um aufzuräumen.

Nach dem Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch im Februar verschlechtert sich das Leben zusehends. Die Steuern, Preise für Gas und Lebensmittel stiegen, sagt ein Mann, der als Maschinenbauer bei dem Großunternehmen NKMS arbeitet. Er zeigt seinen letzten Lohnzettel: 4531,97 Griwna (rund 276 Euro), Steuern 1550,73 Griwna. Auch die Währung Griwna verliert an Wert.

Es ist nicht zuletzt die Angst vor sozialen Härten, die die Menschen auf die Straße treibt. Der abgesetzte Staatschef habe seine bevölkerungsreiche Heimatregion Donezk vergleichsweise gut versorgen lassen, heißt es. Das ist auch an den Häusern, Fassaden und Bürgersteigen abzulesen, die hier besser in Schuss sind als etwa im westlichen Teil der vor dem Staatsbankrott stehenden Ukraine.

„Wir können uns selbst ernähren mit unseren Exporten nach Russland. Wir wollen nicht den Westen der Ukraine durchfüttern“, sagt die 58 Jahre alte Rentnerin Valentina. Sie will nicht in die EU wie die neue Führung in Kiew, sieht im Westen eine Gefahr für den Kulturraum mit seinen slawischen Wurzeln.

„Wir sind mit Russland durch Sprache und russisch-orthodoxen Glauben verbunden“, sagt sie mit einem Heiligenbild in der Hand. „Wir sind friedliche Bürger. Haben alle ruhig zusammengelebt. Und jetzt? Durch schmutzige politische Machtspiele soll das slawische Volk gespalten werden“, meint Valentina aufgebracht.

„Und vergessen Sie nicht die Faschisten vom ultranationalistischen Sektor!“, sekundieren um die Seniorin herum Bewohner. Die Rechten, der gewaltbereite Teil der Maidan-Bewegung in Kiew, hätten es nach dem Sturz von Staatschef Janukowitsch auf die Donbass-Region abgesehen, behaupten viele hier. Beweise dafür haben sie nicht. Einige rufen den im postsowjetischen Raum beliebten Schlachtruf von Widerständlern: „No Pasaran!“ - nur nicht dem Feind ergeben.