Sensation in Russland: Putin will Chodorkowski begnadigen
Moskau (dpa) - Freiheit für Russlands berühmtesten Gefangenen: Völlig überraschend hat Kremlchef Wladimir Putin die Begnadigung seines seit zehn Jahren inhaftierten Gegners Michail Chodorkowski angekündigt.
Der frühere Öl-Milliardär habe ein Gnadengesuch gestellt, das er unterschreiben werde, sagte Putin am Donnerstag in Moskau. Er verwies darauf, dass Chodorkowskis Mutter krank sei. Eigentlich war die Entlassung für August 2014 vorgesehen. Zudem sollen im Zuge einer Massenamnestie auch die beiden zu je zwei Jahren Straflager verurteilten Mitglieder der Punkband Pussy Riot freikommen.
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) begrüßte die angekündigten Freilassungen. „Die Begnadigung ist eine gute Sache. Wir wünschen uns, dass Chodorkowski bald auf freien Fuß kommt“, sagte Steinmeier bei seinem Antrittsbesuch in Polen. Der sensationelle Schritt gilt auch als Zugeständnis des Kreml an den Westen vor den ersten Olympischen Winterspielen in Russland, die am 7. Februar im Schwarzmeerort Sotschi eröffnet werden.
Westliche Politiker sowie Menschenrechtler hatten immer wieder Freiheit für politische Gefangene in Russland gefordert. Zudem sah sich Russland in jüngster Zeit wegen der Menschenrechtslage verstärkt mit Aufrufen zu einem Olympia-Boykott konfrontiert.
Zum Straferlass für Chodorkowski äußerte sich Putin erst nach einer mehr als vierstündigen Pressekonferenz. „Er hat mehr als zehn Jahre in Haft verbracht. Das ist eine ordentliche Zeit“, sagte Putin vor Kameras des Staatsfernsehens. Er werde deshalb das Gnadengesuch in Kürze unterschreiben.
Der einst reichste Mann Russlands werde bald seine Anwälte treffen, teilte Chodorkowskis Pressestelle mit. Der Chef des inzwischen zerschlagenen Ölkonzerns Yukos hatte stets befürchtet, dass der Kreml alles tun könnte, um ihn politisch weiter kaltzustellen. Erst vor kurzem hatte die russische Justiz weitere Verfahren angekündigt. Putin sagte nun, er sehe keine Perspektive für ein weiteres Verfahren.
Chodorkowskis Mutter Marina Chodorkowskaja sagte, sie unterstütze ihren Sohn bei allen Handlungen. Seine Mutter sei erneut an Krebs erkrankt, hatte Michail Chodorkowski vor gut drei Wochen in der „New York Times“ geschrieben. Putin betonte nun: „Er beruft sich auf humanitäre Umstände: Seine Mutter ist krank.“
Die Bundestagsvizepräsidentin und ehemalige Grünen-Chefin Claudia Roth würdigte die Aussicht auf Freilassung als ermutigendes Zeichen, das aber kein unabhängiges Rechtssystem ersetze. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck betonte, Russland sei noch immer von einem Rechtsstaat weit entfernt. Die deutsche Sektion von Amnesty International äußerte die Hoffnung, dass die Entscheidung nicht nur ein taktisches Einlenken vor den Olympischen Spielen sei.
Putin erinnerte daran, dass der einst reichste Mann Russlands stets auf eine Begnadigung verzichtet habe. „Aber jetzt hat er vor nicht allzu langer Zeit ein solches Dokument unterzeichnet und mir mit der Bitte um Begnadigung geschickt“, sagte der Präsident. Widersprüchliche Angaben lagen dazu vor, ob damit ein Schuldeingeständnis verbunden war.
Die wegen Rowdytums verurteilten Pussy-Riot-Musikerinnen könnten nach Angaben ihrer Anwältin ebenfalls bald frei kommen. Die Angehörigen der beiden Aktivistinnen seien bereits zu den jeweiligen Straflagern gereist, um die Frauen zu begrüßen. Putins Ankündigung in der Pressekonferenz galt als wichtiges Signal an den Strafvollzug, die jungen Mütter Nadeschda Tolokonnikowa (24) und Maria Aljochina (25) rasch freizulassen.
Putin bestätigte zudem, dass 30 Umweltschützer der Organisation Greenpeace unter den Gnadenakt fielen. Damit kommen sie nach ihrem Protest gegen Umweltzerstörung in der Arktis nicht wegen Rowdytums vor Gericht und können das Land jetzt verlassen.
Die Staatsduma hatte am Mittwoch eine Massenamnestie für 25 000 Menschen beschlossen, die auch einzelne Gegner Putins betrifft. Der Strafvollzug hat laut der Anordnung sechs Monate Zeit, den Gnadenakt umzusetzen. Demnach müssen die beiden Frauen von Pussy Riot mehrere Dokumente vorlegen, um in Freiheit zu kommen - zum Beispiel einen Nachweis, dass sie das Erziehungsrecht für ihre minderjährigen Kinder haben. Steinmeier lobte die Entscheidung. „Ich begrüße, dass die russische Staatsduma gegenüber so vielen Menschen Milde zeigt“, sagte der Minister.
Chodorkowski war 2003 festgenommen worden, nachdem er Putin öffentlich kritisiert hatte. Nach zwei international umstrittenen Urteilen unter anderem wegen Geldwäsche und Steuerhinterziehung sollte der prominenteste Gefangene Russlands im August 2014 aus der Haft kommen.
Nach Inkrafttreten der vom Parlament abgesegneten Massenamnestie kamen unterdessen die ersten Putin-Kritiker auf freien Fuß. Ein Gericht in Moskau stellte gegen vier Kremlgegner Strafverfahren ein, die am 6. Mai 2012 bei einer Massenkundgebung gegen die Amtseinführung von Putin protestiert hatten und dann festgenommen worden waren. Sie verließen nun den Gerichtssaal als freie Menschen.