Tianjin-Tragödie: „Wir wollen unseren Sohn sehen“
Tianjin (dpa) - Nie zuvor in der Geschichte Chinas sind so viele Feuerwehrleute bei einem Unglück ums Leben gekommen wie bei der Katastrophe im Hafen von Tianjin. Dabei sind noch nicht einmal alle getöteten und vermissten Retter gezählt.
Eine große Zahl haben die Behörden der nordchinesischen Metropole in den ersten Tagen bewusst verschwiegen, wie Angehörige beklagen. Denn als frei angeheuerte Hilfsfeuerwehrleute gehören sie nicht zur offiziellen Truppe der Brandbekämpfer, die in China aus Soldaten rekrutiert werden und dem Militär unterstehen. Zunächst bestätigten die Behörden den Tod von mindestens 20 Feuerwehrleuten.
Erst am vierten Tag nach den verheerenden Explosionen in dem Gefahrgutlager enthüllten sie am Sonntag, dass noch 85 Feuerwehrleute in den Trümmern um den riesigen Krater vermisst werden. Die Familien sind empört, schimpfen auf die Behörden, stürmten am Samstag sogar eine Pressekonferenz in einem Hotel. Es kam zu Tumulten, doch wurden sie von Sicherheitsleuten abgedrängt.
„Wir wollen unseren Sohn sehen - egal, ob tot oder lebend“, sagte Liu Ruwen der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua. Sein 19-jähriger Sohn Liu Zhiqiang ist seit dem späten Mittwochabend vermisst. „Seine Mutter weint den ganzen Tag im Hotel - ihr geht es gesundheitlich schlecht“, sagte ein Verwandter.
Auch der 19-jährige Yuan Xuxu ist nicht zurückgekehrt. Er gehörte zu der ersten, 25-köpfigen Truppe, die am Brandort eintraf - ohne zu wissen, dass hier tonnenweise Chemikalien lagerten. Wie immer versuchten sie, mit Wasser den Brand zu löschen. Möglicherweise lösten sie eine hochexplosive chemische Kettenreaktion aus, die in den gigantischen Explosionen, einer kilometerweiten Druckwelle und einem apokalyptischen, pilzförmigen Rauchpils endete.
Seine Mutter Wang Liying versuchte sofort nach dem Unglück vergeblich, ihren Sohn auf dem Handy zu erreichen, und eilte aus der benachbarten Provinz Hebei nach Tianjin. Aber keine Spur von ihrem Sohn und den anderen - auch nicht unter den Verletzten in den Krankenhäusern. „Ich wünsche mir nur, dass unser Sohn lebend zurückkehrt“, sagte die verzweifelte Mutter unter Tränen zu Reportern.
Die Familien beklagen einen Vertuschungsversuch, weil erst nicht alle vermissten Feuerwehrleute gezählt wurden. Auch wurden sie nicht informiert. So fühlen sie sich im Dunkeln gelassen und verlangen jetzt Antworten. Auch am Sonntag kommt es vor dem Verwaltungssitz des Binhai Distrikts zu Wortgefechten mit Polizisten, die sie wegdrängen wollen.
Es geht auch darum, dass die - oft aus armen Verhältnissen - frei angeworbenen Brandbekämpfer und ihre Familien genauso behandelt werden wollen wie ihre Kollegen aus der offiziellen Feuerbrigade, die nicht nur ohnehin besser bezahlt werden, sondern auch ganz andere Sozialleistungen genießen.
So löst die hohe Opferzahl nicht nur Diskussionen über den allzu lockeren Umgang mit gefährlichen Chemikalien in China aus. Es stellt sich auch die Frage, ob Feuerwehrleute für solche Notfälle überhaupt ausreichend ausgebildet sind. Angesichts einer Serie von Todesfällen unter Brandbekämpfern sind Training und Qualität der chinesischen Feuerwehr ohnehin längst ein heiß diskutiertes Thema.
Anders als in Industrieländern werden in China meist junge Wehrpflichtige zur Feuerwehr entsandt und erhalten nur eine kurze Schulung. Es ist kein regulärer Beruf, für den sich jemand bewusst entscheidet, bestimmte Voraussetzungen erfüllen muss und dann eine richtige Ausbildung durchläuft, was selbst im Militär schon länger kritisiert wird.
„Es gibt viel Raum für Verbesserungen im Trainingsprogramm“, sagte erst im Februar Du Wenfeng, Chef der Feuerwehrabteilung der Akademie der zuständigen Spezialtruppe des Militärs, laut „China Daily“ zu den Mängeln in der Brandbekämpfung in China.