Status Quo wird zementiert Türkisches Parlament debattiert eigene Entmachtung
Istanbul (dpa) - Die Millionenmetropole Istanbul liegt derzeit unter einer Schneedecke. In den Parks bewerfen sich Türken mit Schneebällen, Mutige schlittern auf Plastiktüten die Hänge hinunter. Besonders auffällig: das ausgelassene Lachen, denn eigentlich ist die Grundstimmung seit Monaten niedergeschlagen.
Zu der immer stärker spürbaren Bedrücktheit tragen - neben ökonomischen Schwierigkeiten - vor allem die zahlreichen Anschläge, der Putschversuch vom Sommer und die wachsenden politischen Spannungen bei. Diese Spannungen werden nun noch einmal verschärft: Am Montag hat das Parlament in Ankara mit der Debatte über ein Präsidialsystem in der Türkei begonnen.
Kein Thema spaltet die türkische Gesellschaft so stark wie das Präsidialsystem, für das Staatschef Recep Tayyip Erdogan mit aller Kraft kämpft. Über die Verfassungsänderungen soll zunächst das Parlament und im Frühjahr dann das Volk abstimmen. Die Reform wäre der tiefste Einschnitt seit der Verabschiedung der Verfassung im Jahr 1982 unter der damaligen Militärdiktatur. Das Gesetzeswerk soll dadurch nun in wesentlichen Teilen geändert werden.
Für eine Reform der Verfassung ist auch die Opposition - allerdings nicht in der Art, wie sie Erdogans AKP nun durchzusetzen versucht. Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu von der Mitte-Links-Partei CHP warnt: „Sie wollen die demokratisch-parlamentarische Staatsform in ein totalitäres Regime verwandeln.“ Der CHP-Abgeordnete Bülent Tezcan sagt: „Das ist ein Vorschlag, um einen gewählten König zu schaffen.“
Die Reform würde Erdogan mit einer Macht ausstatten, wie sie einzelne Politiker in Demokratien wohl selten auf sich vereinen. Erdogan würde nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Er könnte - wie derzeit im Ausnahmezustand - weitgehend per Dekret regieren. Der Entwurf der Reform sieht nicht einmal mehr eine Zustimmung des Parlaments zu den Dekreten vor, die die Abgeordneten im Ausnahmezustand zumindest noch nachträglich abnicken müssen.
Tatsächlich gibt Erdogan der Regierung schon jetzt den Kurs vor. Und nicht nur in diesem Punkt beschreibt die Reform an sich den Status Quo, der nun aber legalisiert und vor allem zementiert werden soll. Etwa in Artikel 8 des Änderungsvorschlags, mit dem das Verbot der Parteizugehörigkeit für den Präsidenten gekippt werden soll. Erdogan hat nie aufgehört, die Strippen in der AKP zu ziehen - und er hat daraus auch kaum einen Hehl gemacht, Verfassung hin oder her.
Entsprechend treu folgen ihm die AKP-Abgeordneten nun auf dem Weg der Reform, mit dem sie sich und das Parlament entmachten. Die Parlamentarier wissen, wer dafür sorgen kann, dass sie auch in der nächsten Legislaturperiode wieder einen aussichtsreichen Wahlbezirk zugewiesen bekommen werden. 18 Artikel umfasst die Verfassungsänderung, über die die Abgeordneten nun rund zwei Wochen lang debattieren und abstimmen werden.
Vorgesehen sind geheime Abstimmungen über die einzelnen Artikel und am Ende über das Gesamtpaket, doch AKP-Vizefraktionschef Bülent Turan merkt dazu an: „Ich sage mit Stolz, dass wir als 316 AKP-Abgeordnete diesen Vorschlag gemeinsam gemacht haben, und wir stehen auch gemeinsam dahinter. Wie die Personen ihre Stimme abgeben, ob offen oder geheim, liegt im Ermessen der Personen selbst.“ Die mögliche Logik dahinter: Wer nichts zu verbergen hat, wird sein Abstimmungsverhalten schon offenlegen.
Doch alleine kommt die islamisch-konservative AKP nicht auf die notwendigen 330 Stimmen, um eine Volksabstimmung über das Referendum in die Wege zu leiten. Der Chef der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahceli, hat angekündigt, die Reform zu unterstützen - obwohl er noch bis vor einigen Monaten strikt gegen das Präsidialsystem war. Womöglich spekuliert er auf einen der Posten als Vizepräsident, die Erdogan unter einem Präsidialsystem nach Gutdünken und in beliebiger Zahl vergeben kann.
Mindestens sechs der 40 MHP-Abgeordneten haben sich Medienberichten zufolge allerdings bereits offen dazu bekannt, die Verfassungsreform im Parlament nicht mitzutragen. Einer davon ist Atila Kaya, der aus Protest sogar von seinem Amt als Bahcelis Stellvertreter zurücktrat. Kaya erklärte dazu: „Meine Auffassung vom türkischen Nationalismus haben meinem Verstand und meinem Gewissen befohlen, Nein zum Verfassungsänderungsvorschlag zu sagen, und mir verboten, heuchlerisch zu handeln.“
Mit einem Scheitern der Reform im Parlament wird dennoch nicht gerechnet: Die AKP benötigt nur 14 der 40 MHP-Stimmen. Danach soll im Frühjahr das Volk das Sagen haben - und auch dort ist angesichts der Verehrung, die Erdogan in weiten Teilen der türkischen Bevölkerung erfährt, die notwendige einfache Mehrheit für das Präsidialsystem wahrscheinlich.