Analyse Wahlkampf: Lange Gesichter im Schulz-Zug

Kiel/Lübeck. Auf Gleis 1 im Lübecker Hauptbahnhof wartet der Regionalexpress RE 21631 auf Martin Schulz. „Schulzzug der SPD Schleswig-Holstein“ ist auf einem Schild zu lesen, das auf dem Bahnsteig steht.

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Der Kanzlerkandidat ergattert in einem von seiner Partei angemieteten Waggon einen Fensterplatz. Neben ihm sitzt Torsten Albig. Ob er nach der Wahl am Sonntag Ministerpräsident bleibt, ist ungewiss.

Für eher lange Gesichter im überfüllten Abteil sorgen Neuigkeiten aus Nordrhein-Westfalen. Dort steigt am 14. Mai die kleine Bundestagswahl. Schulz wird ein Handy mit frischen Umfragezahlen gereicht, die für den WDR erhoben worden sind. SPD 32, CDU 31, die FDP bei 13 Prozent. Lange starrt Schulz auf den Bildschirm, danach aus dem Fenster. „Kokolores“, murmelt er und schnauft einmal durch. Dann zückt er sein eigenes Handy, schreibt eine SMS, telefoniert.

Manuela Schwesig, die Bundesfamilienministerin, und Ralf Stegner, SPD-Landeschef im Norden, bestärken ihn. Schwesig verweist darauf, dass es sich widersprechende Umfragen an Rhein und Ruhr gibt. Dennoch ist die Unruhe der Genossen mit Händen greifbar. Nicht nur in Kiel und Düsseldorf sind die Umfragen mauer geworden. Auch bundesweit scheint der Schulz-Effekt nachzulassen. Die SPD ist wieder unter die 30-Prozent-Marke gerutscht. Die Union liegt weit vorne.

Nach wochenlanger meist positiver Berichterstattung erscheinen nun vermehrt kritische Berichte über Schulz. Seit 100 Tagen ist der Mann aus Würselen Hoffnungsträger der Sozialdemokratie (am 24. Januar verzichtete Sigmar Gabriel auf Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur). Doch was ist von seinem fulminanten Start geblieben? Wofür steht Schulz, wohin will er mit dem Land, falls er es regieren darf?

Der 61-Jährige will von einem Durchhänger nichts hören: „Als ich gewählt wurde, lag die SPD bei maximal 21 Prozent in den Umfragen. Jetzt liegen wir 100 Tage später bei 29, 30 Prozent. Wenn in den nächsten 100 Tagen die Entwicklung so weitergeht, bin ich zufrieden.“ Schulz ist es in dieser überschaubaren Zeiten gelungen, die seit Jahren gelähmte und müde SPD zu mobilisieren, der ältesten deutschen Partei zumindest wieder das Gefühl zu geben, das Kanzleramt sei kein Hirngespinst, sondern in Reichweite.

Mit Blick auf den „Schulzzug“ - unter diesem Schlagwort werben SPD-Anhänger im Netz für den Kandidaten - sagt Schulz im Regionalexpress, mit diesem Begriff verbinde er die mehr als 16 000 SPD-Neumitglieder, die seit seiner Ausrufung zum Nachfolger von Sigmar Gabriel in die Partei eingetreten seien: „Das hat schon eine gewisse Fahrt aufgenommen.“ Sollten die Wahlen an der Küste und in seiner Heimat NRW für die regierende SPD aber schiefgehen, hätte Schulz ein echtes Problem.

Der frühere EU-Parlamentspräsident kämpft. In Husum verteilt er am Morgen Rosen. Vor 32 Jahren lernte er dort seine Frau kennen, eine Woche später zogen sie in Würselen zusammen. Vor dem Hotel, in dem die beiden damals übernachteten, macht Schulz ein Selfie.

Abends nach der Einfahrt des Zuges in Lübeck gibt es eine Schrecksekunde. Vor der Kongresshalle warten Hunderte SPD-Anhänger im Regen auf Schulz. Die Türen bleiben zu. Sprengstoff-Spürhunde der Polizei haben angeschlagen. Der Saal wird erneut durchsucht. Erst 60 Minuten später gibt es Entwarnung. Für Schulz gilt das nicht. Ob er ein chancenreicher Herausforderer von Angela Merkel bleibt, das dürfte man nach den Abstimmungen in Kiel und Düsseldorf klarer sehen. (dpa)