Wie stehen die Türken in Deutschland zu Erdogan?

Berlin (dpa) - Mehr als drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln leben in Deutschland. Hunderttausende deutsche Touristen reisen Monat für Monat in die Türkei. Was der gescheiterte Putschversuch für Türken in Deutschland und Deutsche in der Türkei bedeutet:

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Wie groß ist die Unterstützung für Erdogan unter den türkischstämmigen Menschen hierzulande?

Groß. Bei der Neuwahl zum türkischen Parlament im November 2015 stimmten knapp 60 Prozent der in Deutschland lebenden Türken für seine Partei, die islamisch-konservative Partei AKP. Damit schnitt Erdogans Partei in Deutschland besser ab als in der Türkei. Auch in keinem anderen europäischen Land leben so viele Erdogan-Anhänger wie in Deutschland. Zum Vergleich: In Großbritannien kam die AKP bei dieser Wahl nur auf rund 20 Prozent. Bei einem Wahlkampf-Auftritt in Köln jubelten Erdogan 15 000 Menschen zu. Allerdings leben in Deutschland auch viele Erdogan-Gegner, vor allem unter den Kurden.

Wie stark ist die Gülen-Bewegung in Deutschland?

Die islamisch-konservative Bewegung ist in Deutschland vor allem im Bildungsbereich aktiv. Zuerst bot sie Nachhilfekurse in mehreren Großstädten und Gemeinden an. Später gründete die Bewegung Privatschulen und Kindertagesstätten. Da sich die Bewegung auch im Bereich „interreligiöser Dialog“ engagiert, ist sie bei den Behörden relativ gut gelitten. Doch ein Rest Misstrauen bleibt - auch angesichts der Vorwürfe aus Ankara, der in den USA lebende Fethullah Gülen versuche mit seinen Anhängern die staatlichen Institutionen in der Türkei zu unterwandern. Unterrichtssprache in den Gülen-Schulen ist Deutsch. Türkisch wird als Schulfach angeboten. Die mehrheitlich türkischstämmigen Schüler werden zu Fleiß, Disziplin und Höflichkeit angehalten. Die Lehrer vermitteln ein sehr konservatives Weltbild.

Werden jetzt mehr türkische Staatsbürger nach Deutschland kommen?

Mittelfristig vielleicht schon. Denn der Terror, die militärische Auseinandersetzung mit den Kurden und die verschärften Spannungen nach dem missglückten Putschversuch belasten nicht nur den Tourismussektor, sondern auch andere Bereiche der türkischen Wirtschaft. Außerdem ist Auswanderung schon seit einiger Zeit ein Thema unter türkischen Intellektuellen. Besonders seitdem 1128 Akademiker die Regierung Anfang des Jahres in einem offenen Brief aufgefordert hatte, die Gewalt im Südosten zu beenden und den Friedensprozess mit den Kurden wieder aufzunehmen. Erdogan tobte. Die Unterzeichner sahen sich in der Folge Drohungen und Repressalien ausgesetzt. Deutschland gehört aufgrund der großen türkischen Gemeinde hierzulande zu den naheliegenden Zielen für türkische Auswanderer.

Was wird aus der Visafreiheit für Türken?

Die rückt gerade wieder ziemlich in die Ferne. In Zusammenhang mit dem Flüchtlingsdeal sollte die Visumspflicht für Reisen in die EU eigentlich schon im Juli aufgehoben werden. Der Termin wurde aber verschoben, weil die Türkei noch nicht alle 72 Bedingungen dafür erfüllt. Dazu gehört auch die Reform der Anti-Terror-Gesetze. Nach dem gescheiterten Putsch sieht es nun überhaupt nicht danach aus, als ob es auf diesem Gebiet Fortschritte geben könnte.

Kann man jetzt überhaupt noch in die Türkei reisen?

Wenn man aufpasst, schon. Derzeit machen etwa 200 000 Deutsche Urlaub in der Türkei. In den Hotels am Strand bekam man vom Putschversuch kaum etwas mit. In Istanbul - auch ein beliebtes Reiseziel - war das ganz anders. Glücklicherweise wurden aber auch dort keine Bundesbürger verletzt. Das Auswärtige Amt mahnt in seinen aktuellen Sicherheitshinweisen: „Landesweit ist weiter mit politischen Spannungen sowie gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen zu rechnen.“ Von Reisen in das Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak wird sogar „dringend“ abgeraten. Allerdings kommt auch kaum jemand auf die Idee, dort Urlaub zu machen.

Was wird mit den Bundeswehr-Soldaten, die in der Türkei im Einsatz sind?

Die im türkischen Incirlik stationierten Bundeswehrsoldaten sind nach zweitägiger Zwangspause wegen des gescheiterten Putschversuchs seit Montag wieder im Einsatz. Zwei deutsche „Tornado“-Aufklärungsflugzeuge und ein Tankflugzeug starteten in den Luftraum über Syrien und dem Irak, um die Bombenangriffe auf die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) zu unterstützen. Nach jetzigem Stand wird der Einsatz so weitergehen wie bisher.

Werden jetzt wieder mehr Flüchtlinge über die Türkei nach Europa kommen?

Wahrscheinlich nein. Denn die Balkan-Route bleibt dicht. Die meisten syrischen Flüchtlinge in der Türkei sind erleichtert, das die Putschisten gescheitert sind. Sie sehen Erdogan als ihren Schutzpatron.