Rassismus-Debatte Die jüngeren Deutsch-Türken sind sensibler für Diskriminierung
Mesut Özil ist in Deutschland geboren. Aber das Land seiner Großeltern lässt ihn nicht los. Für die Forschung ist das nichts Ungewöhnliches.
Düsseldorf. Geht das überhaupt noch, dass man Äußerungen des Fußballprofis Mesut Özil versteht — und andere nicht? Ist das noch möglich, dass Özil mit seiner lang erwarteten Stellungnahme zugleich richtig und falsch liegen kann — und auch irgendwas dazwischen? Billigen wir einem Menschen zu, dass er in Gelsenkirchen geboren ist, aber auch innere Bindungen zu dem Land seiner Großeltern empfindet? Wie viel Grautöne, wie viel Differenzierung ist noch gewollt in der immer schwarz-weißeren Integrationsdebatte?
Serap Güler (CDU), Staatssekretärin im NRW-Integrationsministerium, ist da für den Moment etwas hoffnungslos. „Die Gewinner der Debatte sind die Rassisten auf beiden Seiten“, sagt sie einen Tag nach dem Özil-Rücktritt aus der deutschen Nationalmannschaft. Wie zur Bestätigung meldet sich aus Berlin die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel zu Wort („Mit seiner Abschiedstirade erweist sich Mesut Özil leider als typisches Beispiel für die gescheiterte Integration von viel zu vielen Einwanderern aus dem türkisch-muslimischen Kulturkreis“).
Aus Ankara gibt es derweil vergiftete Umarmungen für den 2007 an Deutschland verlorenen Sohn: „Wir unterstützen die ehrenhafte Haltung unseres Bruders Mesut Özil von Herzen“, twittert der türkische Sportminister Mehmet Kasapoglu in die weite Welt. Und Justizminister Abdulhamit Gül bescheinigt dem 29-Jährigen, er habe mit seinem Rücktritt das „schönste Tor gegen den faschistischen Virus geschossen“.
Eigentlich ist das ein Routinetermin im NRW-Integrationsministerium. Das Haus von Minister Joachim Stamp (FDP) fördert das Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) und das legt seit 1999 regelmäßig Befragungsergebnisse zur Identifikation und politischen Partizipation türkeistämmiger Zuwanderer vor. Aber an diesem Tag wirken die Ergebnisse wie ein abgesprochener wissenschaftlicher Antwortversuch auf die vielen Fragen, die der Fall Özil aufwirft.
Zum Beispiel auf die, warum es eben nicht so ist, dass die zweite und dritte Generation der in Deutschland lebenden Türken sich automatisch zugehöriger fühlt. Das Gegenteil ist der Fall. Seit dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei 2016, der Reaktion Erdogans und der anschließenden türkeikritischen bis -hysterischen Diskussion hierzulande ist zwar das Zugehörigkeitsgefühl der hier lebenden Türken zu Deutschland insgesamt schwächer und zur Türkei stärker geworden. Aber beide Entwicklungen fallen bei den Jüngeren noch einmal stärker aus.
Prof. Haci-Halil Uslucan, wissenschaftlicher Leiter des ZfTI, hat dafür auch eine plausible Erklärung: Die erste Generation der Zuwanderer (wenn man so will: Özils Großeltern) empfindet vor allem eine große Dankbarkeit für Deutschland, weil sie mit den Möglichkeiten hier ein Leben führen konnte, das in der Heimat nicht denkbar gewesen wäre.
Die zweite und dritte Generation (also die Nachkommen, die in Deutschland geboren und mitunter auch Deutsche sind) vergleicht ihre Lage aber nicht mehr mit dem Land der Eltern und Großeltern, sondern mit den Möglichkeiten der Deutschen ohne Migrationsgeschichte — und ist dabei wesentlich sensibler für krasse Unterschiede und Diskriminierungen.
Die Verschiebung der heimatlichen Verbundenheit bei den Türkeistämmigen reicht aber weiter zurück als bis zum gescheiterten Putschversuch. Sie begann mit Erdogans Kölner Antiassimiliations-Rede 2008 und führte über die Sarrazin-Debatte („Deutschland schafft sich ab“, 2010) bis zur Aufdeckung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) und seiner rassistisch motivierten Morde 2011.
Im Ergebnis empfindet heute jeder zweite Türke, der hier lebt, vor allem die Türkei als seine Heimat, 30 Prozent nennen beide Länder und nur weniger als 20 Prozent der Befragten geben bei der Frage Deutschland als Antwort. Zwar beziehen sich die Zahlen nur auf NRW als dem für Fragen des deutsch-türkischen Verhältnisses wichtigsten Bundesland. Aber die Abweichungen zu bundesweiten Ergebnissen sind laut Uslucan nur marginal.
Besonders auffällig ist, wie sehr sich unter den hier lebenden Türkeistämmigen die Wahrnehmung der Interessenvertretung durch die deutsche und die türkische Regierung verändert hat. Letztere liegt derzeit auf Platz 1, die Bundesregierung nur noch auf Platz 7. 2004 war das noch umgekehrt. In der Türkei gibt es mittlerweile ein eigenes Ministerium, das sich nur den Türken im Ausland widmet. „Die türkische Regierung schläft nicht“, sagt Güler.
Von zwei Herzen in seiner Brust spricht Mesut Özil. Und Prof. Uslucan warnt davor, solche Formen „transnationaler Beziehungen“ zu skandalisieren oder zu dramatisieren. Es sei eine überzogene Vorstellungen, Neigungen, Herzen und Haltungen allesamt politisch steuern zu wollen.
Das ist ein Appell für eine gelassenere, nüchternere Tonlage. Die Frage ist nur, wie sie sich durchsetzen soll. Ob Mesut Özil und Ilkay Gündogan, „die beiden Jungs aus dem Ruhrpott“, wie Minister Stamp sie nennt, wirklich seiner am Montag erneuerten Einladung folgen werden, sich noch einmal zusammenzusetzen und alles „nüchtern“ zu besprechen?
Oder dominiert derzeit eher der Eindruck, den ein Freund von Prof. Uslucan nach dem Fernsehduell von Angela Merkel und Martin Schulz im Bundestagswahlkampf im vergangenen Jahr hatte? Man könnte den Eindruck gewinnen, die Türkei und Deutschland befänden sich im Krieg, reagierte er auf den Raum, den das Thema einnahm, und den Tonfall, der dabei herrschte.
Das Integrationsministerium will die Stimmungslage wieder umbiegen. Eine Kampagne soll dabei helfen. Derzeit wird der Ausschreibungstext erarbeitet. Es soll um Vorbilder mit und ohne Migrationsgeschichte, um Werte und das Thema der Einbürgerung gehen. Und um Fairness. Warum immer nur die Türken? Warum müssen sich die Polen nicht für die Umbrüche in ihrer Heimat rechtfertigen? Warum nicht Lothar Matthäus für sein Händeschütteln mit Wladimir Putin? Warum, warum, warum? Fragen, die Güler auch in begleitenden Veranstaltungen zur Diskussion stellen will.
Warum auch noch seine Schule? Mesut Özil hat sich das gefragt. Ein Termin an seiner alten Gelsenkirchener Gesamtschule Berger Feld sei nach dem Erdogan-Foto abgesagt worden. „Ganz ehrlich, das hat wirklich wehgetan. Obwohl ich dort Schüler war, als ich jünger war, wurde mir vermittelt, dass ich nicht erwünscht und nicht ihre Zeit wert war.“ Die Schule hat mittlerweile widersprochen. Özil sei weiterhin willkommen. Klärungsbedarf, wohin man blickt.