Zurück im Leichenwagen: Dramatische Schicksale an Grenze zu Syrien
Suruc (dpa) - Der Leichenwagen rollt langsam auf den türkischen Grenzübergang Mürsitpinar zu - Richtung Syrien. Rund 30 Trauernde laufen neben dem Fahrzeug her. Es sind Angehörige eines Jungen, der auf syrischem Gebiet auf eine Mine trat, in der Türkei behandelt wurde und dort im Krankenhaus starb.
Nun soll das Kind, wie Verwandte erzählen, in seiner Heimatstadt Kobane auf der syrischen Seite beerdigt werden. Angehörige von beiden Seiten der Grenze wollen dem Jungen das letzte Geleit geben - doch die Grenzbeamten lassen die türkischen Kurden nicht durch.
Die Grenze bei Kobane (Arabisch: Ain al-Arab) sorgt seit Tagen weltweit für Schlagzeilen. Über sie sind binnen einer Woche mehr als 160 000 Menschen vor der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in die Türkei geflohen - viele von ihnen syrische Kurden.
An den Übergängen spielen sich dramatische Szenen ab. Die Grenze markiert nicht nur die Linie zwischen dem Krieg in Syrien und der Sicherheit in der Türkei. Sie geht auch mitten durch Familien - denn Kurden wohnen auf beiden Seiten.
Eine Viertelstunde diskutieren die Angehörigen des toten Jungen erhitzt mit den Grenzern. Vergebens: Die Polizisten winken den Leichenwagen durch, aber nur die syrischen Kurden dürfen den Toten begleiten. Niemand mit türkischem Pass darf über die Grenze nach Syrien - auch nicht für eine Beerdigung. Die türkischen Sicherheitskräfte wollen verhindern, dass Kämpfer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK nach Syrien einsickern.
Vor dem Grenzposten lässt sich eine alte Frau weinend auf die Straße sinken. Es ist die Großmutter des toten Jungen, wie eine Frau erklärt. Sie sagt: „Wir alle hier gehören zur Familie, aber wir dürfen nicht mit, weil wir Türken sind.“
Immer noch kommen jeden Tag Flüchtlinge über die Grenze. Einer davon ist der 29-jährige Shiar Bakir. Er passiert den Übergang bereits zum zweiten Mal in Richtung Türkei. Erschöpft lässt er vier Taschen und einen Koffer in den Staub fallen. Am vergangenen Wochenende sei er mit seiner Ehefrau geflohen, erzählt er. Nun sei er noch einmal ins Haus seiner Schwiegereltern in Kobane zurückgekehrt, um ein paar Sachen zu holen. „Ich habe erst vor kurzem geheiratet“, sagt er. „In den Taschen sind noch ein paar Hochzeitsgeschenke.“
Der 47-jährige Qaseb Berkal wird an der Grenze schon von seinem Onkel empfangen. Doch Berkal hat keine Zeit für lange Begrüßungen, der Syrer ist verzweifelt: „Ich habe 100 Schafe und 15 Kühe auf der syrischen Seite zurückgelassen“, sagt der Bauer. Am Samstag sei er aus einem Dorf in der Nähe von Kobane geflohen und habe dann mit seiner Frau und seinen Kindern tagelang auf der syrischen Seite gewartet. Freiwillig, wie er betont. „Ich konnte doch meine Tiere nicht alleine lassen. Die verhungern doch.“
Er schaut auf die andere Seite. Kühe und Schafe stehen dort dicht gedrängt am Zaun. Dahinter parken Autos im Staub. Die Flüchtlinge dürfen weder Tiere noch Fahrzeuge mit in die Türkei bringen. Seine Frau und seine Kinder passten auf die Tiere auf, erzählt Berkal. Er werde seine Familie nachholen, sobald er eine Unterkunft im Dorf seines Onkels organisiert hat. Was dann mit seinen Tieren geschehen werde, das wisse er nicht.