Interview Das muss passieren, damit Deutschland die Klimaziele erreicht
Düsseldorf. Deutschland hinkt hinter den eigenen Klimazielen hinterher. Wir haben bei Claudia Kemfert nachgefragt, was geschehen muss, damit sich das ändert.
Frau Kemfert, trotz aller Klimaabkommen sind die Treibhausgasemissionen in den vergangenen Jahren global um 60 Prozent gestiegen. Ist der Kampf gegen den Klimawandel nicht längst verloren?
Claudia Kemfert: Der Kampf ist nicht verloren, aber wir sind noch auf dem falschen Weg. Und die Zeit drängt. Das Fenster des Handelns schließt sich bald. Wir müssen weg von Kohle, Öl und Gas.
In Deutschland ist diese Politik nicht zu erkennen. Hat Angela Merkel, einst als Klimakanzlerin gefeiert, jede Glaubwürdigkeit verloren?
Kemfert: Merkel hat Einiges für die Energiewende in Deutschland getan, vor allem bei der Förderung erneuerbarer Energien. Sie steht auch für den Atomausstieg. Aber in den letzten Jahren ist ihr Schwung erlahmt, die Klimaziele werden verfehlt. Der Ausbau der erneuerbaren Energien wird behindert, der Kohleausstieg verschleppt und die nachhaltige Verkehrswende verschoben. Nur wenn sie konsequent umsteuert, kann sie Glaubwürdigkeit wieder gewinnen.
Ist die Einrichtung einer Kohlekommission eine gute Idee. Oder drückt sich die Politik vor eigenen Entscheidungen?
Kemfert: Das einzige Problem an der Kohlekommission ist, dass sie viel zu spät kommt. Wir wissen seit über zehn Jahren, dass wir den Kohleausstieg dringend brauchen. Allein die Empfehlungen der Kommission werden natürlich nicht reichen. Am Ende ist entscheidend, was die Politik daraus macht.
Wären Sie gerne Mitglied der Kommission?
Kemfert: Wissenschaftlicher Sachverstand ist in der Kommission durchaus vertreten. Als Mitglied des Sachverständigenrates der Bundesregierung habe ich auch dort die Möglichkeit, meine Positionen einzubringen.
Wie schnell sollte der Kohleausstieg kommen?
Kemfert: Sehr schnell! Wir sollten sofort alte und ineffiziente Kraftwerke vom Netz nehmen und die Kapazitäten der übrigen umgehend drosseln. Bis 2030 müssen alle Braunkohlekraftwerke und bis 2040 die Steinkohlekraftwerke vom Netz gehen. Das klingt schlimmer, als es ist. Im Gegenteil: Je länger wir warten, umso schmerzhafter wird es.
Was sagen Sie den Beschäftigten, die in der Lausitz und im rheinischen Revier ihre Arbeit verlieren?
Kemfert: Veränderung ist unangenehm und anstrengend. Keine Frage. Die Menschen erwarten zu Recht Hilfe. Doch statt verängstigt und stur am Alten festzuhalten, sollten alle gemeinsam neue Perspektiven entwickeln: materielle Versorgung und sinnhafte Aufgaben für Menschen, die vorzeitig in Rente gehen, Umschulungen für die Jungen. Kluge Wirtschafts- und Sozialpolitik heißt auch, aktiv neue Unternehmen in die Regionen zu holen.
Deutsche Verbraucher zahlen die höchsten Strompreise in Europa. Ist der Preis so hoch, weil die Energiewende miserabel organisiert ist?
Kemfert: Genau so ist es! Wir zahlen den Preis für eine vermurkste Energiewende. Wir finanzieren Kohlekraftwerke, die wir nicht mehr brauchen, und legen noch Abwrackprämien obendrauf. Zusätzlich leisten wir uns einen überdimensionierten Ausbau der Stromnetze, um den Kohlestrom zu erhalten. Besonders ärgerlich daran ist, dass als Ausrede für diese überteuerte Rettung der fossilen Dinosaurier ausgerechnet die erneuerbaren Energien herhalten müssen.
Brauchen wir die neuen Stromleitungen denn nicht?
Kemfert: Der geplante Netzausbau ist überdimensioniert. Der Bedarf wird zu hoch angesetzt, weil man die Effekte durch das Erreichen der Klimaschutzziele vernachlässigt: Je schneller wir aus der Kohle aussteigen, desto weniger Stromautobahnen werden benötigt. Die Ausrichtung auf eine dezentrale und lastnahe Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen ist wichtiger als der monströse Ausbau der Netze.
Wind und Sonne liefern die Energie sehr schwankend. Brauchen wir die Kohle nicht, um die Grundlast des Strombedarfs zu decken.
Kemfert: Das Grundlast-Argument ist ein Mythos. Fakt ist, dass wir die Versorgung problemlos sicherstellen können, wenn wir parallel zum Kohleausstieg Schritt für Schritt die Erneuerbaren ausbauen. Schwankungen bei Sonne und Wind lassen sich über Speicherkraftwerke, Batterien oder auch durch — aus Ökoenergien hergestellten — Wasserstoff oder Gas ausgleichen. Das funktioniert. Alle Modellrechnungen zeigen das.
Der Verkehr trägt maßgeblich zu den Treibhausgasemissionen bei. Brauchen wir eine Quote für Elektroautos?
Kemfert: Ja, eine Quote wäre sinnvoll und machbar: Ab 2025 könnte jedes vierte neu zugelassene Fahrzeug elektrisch betrieben sein. Ab 2030 jedes zweite. Eine Quote würde den Ehrgeiz aller Beteiligten anstacheln, dafür wirtschaftliche Lösungen aus den Schubladen zu holen. Die Ideen sind da. Auch dafür, unnötigen Verkehr zu vermeiden sowie in Ballungszentren den öffentlichen und den Radverkehr zu stärken.
In der Marktwirtschaft wäre ein deutlich höherer Preis für Transporte doch dann der richtige Weg?
Kemfert: Der Markt wird wesentlich durch Steuern beeinflusst, leider in die falsche Richtung. Wir benötigen dringend eine Energiesteuerreform. Fossile Energien müssen stärker belastet, Öko-Energien deutlich entlastet werden. Allein die Abschaffung des Steuerprivilegs für Diesel brächte bis zu neun Milliarden Euro Steuereinnahmen. Dies Geld sollte man statt in die Auspuffe veralteter Technik lieber in den Ausbau der Ladeinfrastruktur und in die Förderung des Schienenverkehrs stecken.
Und warum geschieht das alles nicht?
Kemfert: Weil wir es gerade im Verkehrssektor mit einem eklatanten Politikversagen zu tun haben, und zwar seit Jahrzehnten. Durch den Dieselskandal wurde dieses Versagen nur noch offensichtlicher.
Wie stehen Sie zu Fahrverboten in den Innenstädten?
Kemfert: Fahrverbote sind die Quittung für dieses Politikversagen. Offenbar ist der Politik die Gesundheit einer veralteten und rückwärtsgewandten Autoindustrie wichtiger als die Gesundheit der Menschen. Fahrverbote wären vermeidbar, wenn man die Autohersteller verpflichtet, sich an geltende Gesetze zu halten. Dieselfahrzeuge dürfen nicht länger begünstigt werden, eine blaue Plakette für Städte ist überfällig. Mit konsequenter Hardware-Nachrüstung der Diesel-Pkw wäre die Debatte längst beendet. Doch die verantwortlichen Politiker lassen aus unerklärlichen Gründen die Autohersteller einfach so davonkommen. So sind die Autofahrer die Gelackmeierten, die jetzt die Zeche zahlen.