Gespräche stocken Die Angst der Wirtschaft vor dem Sturz in den Brexit-Abgrund
London (dpa) - Als die britische Premierministerin Theresa May im September in Florenz eine Rede zum Brexit hielt, atmete die Wirtschaft auf beiden Seiten des Ärmelkanals auf.
Erstmals brachte May konkret eine Übergangsphase nach dem EU-Austritt ihres Landes im März 2019 ins Spiel. Zwei Jahre, in denen weitgehend alles beim Alten bleiben soll. Das würde Unternehmen und Regierung Luft verschaffen, um sich auf Veränderungen nach dem Brexit einzustellen.
Doch knapp zwei Monate später ist von dem Optimismus nicht viel geblieben. Es geht nicht voran bei den Brexit-Gesprächen. Kommt die Einigung für die Übergangsphase zu spät, müssen sich die Unternehmen schon bald auf den schlimmsten Fall vorbereiten: den Sturz in den Brexit-Abgrund, ein Austritt aus der Europäischen Union ohne Abkommen über die Zukunft.
Zölle müssten eingeführt werden, und Warenkontrollen an den Grenzen wären nötig. Ein Szenario, für das weder die britischen Zollbehörden noch ihre Kollegen auf dem Kontinent gerüstet wären. „Das wäre der chaotische Brexit“, sagt Ulrich Hoppe von der deutsch-britischen Industrie- und Handelskammer in London: „Dann sind die Häfen am nächsten Tag zu.“
Für Banken und Finanzdienstleister aus der Londoner City wären die Folgen ähnlich drastisch. Sie müssten Teile ihres Geschäfts an Standorte in der Europäischen Union verlagern; sonst wäre es möglich, dass sie ihre Produkte nicht mehr in die EU verkaufen dürfen.
Etwa 50 Banken haben sich nach Angaben der Europäischen Zentralbank (EZB) bereits zur Verlagerung von Geschäften erkundigt. 20 haben schon eine Banklizenz im Euroraum beantragt. Experten rechnen mit bis zu 70 000 Jobs, die allein in der Finanzbranche aus Großbritannien abwandern könnten.
Entscheidungen, die nicht mehr ohne erhebliche Kosten rückgängig gemacht werden können - und sie müssen bald getroffen werden. Bei einer Umfrage des wichtigsten britischen Unternehmerverbands CBI (Confederation of British Industry) gaben 60 Prozent der Firmen an, spätestens Ende März 2018 noch eine Kehrtwende vollziehen zu können. Ein Viertel der Unternehmen sieht schon beim Jahreswechsel einen Punkt erreicht, von dem es kein Zurück mehr gibt.
„Wir brauchen jetzt mehr als warme Worte“, betonte CBI-Generaldirektorin Carolyn Fairbairn kürzlich nach einem Treffen zwischen Vertretern europäischer Unternehmensverbände und Premierministerin May. Auch deutsche Wirtschaftsverbände erhöhten dabei den Druck auf die britische Regierung. „Wir brauchen rasch Klarheit über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen“, sagte BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter. Man erwarte bis zum nächsten EU-Gipfel Mitte Dezember aus London Ergebnisse.
Die wirtschaftliche Gesamtlage scheint sich einzutrüben. Großbritannien ist mit 0,4 Prozent Wachstum im dritten Quartal inzwischen auf den hinteren Plätzen in der EU.
Doch die Unternehmen scheuen Investitionen. „Eine der Konsequenzen des Brexits ist Unsicherheit“, sagt Amit Kara vom National Institute of Economical and Social Research, einer einflussreichen Londoner Denkfabrik. „Es wäre besser, wenn sie wissen würden, dass es entweder so oder so weitergeht, als in der Luft zu hängen.“
Ein weiterer Grund für das gehemmte Wachstum ist die gesunkene Kauflaune der Briten. Im vergangenen Jahr profitierte die britische Wirtschaft noch von einem Kaufrausch. Doch der war vor allem finanziert über Kreditkarten. Inzwischen fürchten sich Einzelhändler vor einem lauen Weihnachtsgeschäft und senken jetzt schon die Preise.
Die sind im vergangenen Jahr erheblich gestiegen, und das trifft vor allem die einkommensschwachen Briten. Schuld daran ist der Wertverfall des britischen Pfunds nach dem Brexit-Votum im vergangenen Jahr. Die Inflation liegt bei drei Prozent, bei Lebensmitteln beträgt die Teuerungsrate sogar mehr als vier Prozent.
Die Einkommen der Briten stiegen dagegen im vergangenen Jahr nur um 2,1 Prozent. Und das, obwohl die Beschäftigung auf einem Rekordhoch ist. Doch geringe Produktivität verhindert, dass die Löhne nach oben klettern. Hoppe macht dafür das schlechte Ausbildungssystem in dem Land verantwortlich. Bislang sei das durch Fachkräfte aus der EU ausgeglichen worden, doch es werden bereits spürbar weniger.
Alle Hoffnungen richten sich nun darauf, dass es May doch noch gelingt, ein Angebot auf den Tisch zu legen, das die Verhandlungen in die nächste Runde befördert. Doch dazu müsste sie sich über die Brexit-Puristen in ihrer Partei hinwegsetzen. Das scheint angesichts der knappen Mehrheit, über die May im Parlament verfügt, zweifelhaft.