Interview mit Karel De Gucht: „Freihandel stärkt die EU“
Europäer und Amerikaner wollen gegenseitig Zollschranken abbauen. Kommissar Karel De Gucht sieht dadurch Gewinner auf beiden Seiten.
Brüssel. Wegfall aller Handelsschranken: Die Europäer streben ein Freihandelsabkommen mit den USA an. Damit würde der weltgrößte Wirtschaftsraum entstehen. EU-Handelskommissar Karel De Gucht erklärt, was das den Bürgern bringen könnte.
Herr De Gucht, Europa macht Schlagzeilen wegen der Wahl in Italien. Schadet Europa eine Rückkehr der Euro-Krise bei den anstehenden Verhandlungen mit den USA?
Karel De Gucht: Welche Rückkehr? Ich sehe kein Wiederaufflammen der Krise. Aber natürlich sind Italiens Wahlergebnisse Besorgnis erregend. Der bisherige Regierungschef Mario Monti wurde nicht für seinen Spar- und Reformkurs belohnt — obwohl er gute Arbeit geleistet hat. Es ist aber auch klar, dass die Finanzmärkte Italien sofort abstrafen würden, falls das Land vom Reformkurs abweicht. In ganz Europa müssen wir uns daher bemühen, alle unwirtschaftlichen Geldausgaben zu streichen.
Die Lage in Europa hat keinen Einfluss auf die Verhandlungen. Die USA haben ja auch ein Problem mit ihrem Staatshaushalt und hohe Schulden. Zudem dauern Gespräche über Freihandelsabkommen Jahre — und hängen damit nicht von der aktuellen Wirtschaftslage in der EU oder den USA ab. Es müssen viele Sachen besprochen werden. Allein das Freihandelsabkommen mit dem deutlich kleineren Singapur umfasst 1500 Seiten.
Was bringt es Europa, wenn alle Handelsschranken zwischen EU und USA fallen?
De Gucht: Es geht darum, die zwei größten Wirtschaftsräume der Welt zu einem gemeinsamen Markt zu verschmelzen — möglichst bis Ende 2014. Das wird das Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen beflügeln, auch zum Nutzen künftiger Generationen.
Die EU-Kommission schätzt, dass Europas Wirtschaftsleistung infolge des Freihandelsabkommens um jährlich ein halbes Prozent steigen könnte. Das entspräche Zusatz-Einnahmen von 86 Milliarden Euro. Zugleich dürfte die US-Wirtschaftsleistung um 0,4 Prozent wachsen.
Europas Bürger sorgen sich, dass künftig Chlor-Hühnchen, Hormon-Rindfleisch oder gentechnisch veränderte Lebensmittel aus den USA in die Supermärkte kommen — zu Recht?
De Gucht: Nein. Keine Tür nach Europa wird sich automatisch für solche Produkte öffnen. Unsere Vorschriften zur Zulassung von gentechnisch veränderten Lebensmitteln gelten ja weiterhin, daran wird ein Freihandelsabkommen nichts ändern. Übrigens können bereits heute gentechnisch veränderte Produkte in der EU unter bestimmten Bedingungen zugelassen und dann verkauft werden. Diese Bedingungen werden sich durch das Abkommen nicht ändern. Ich bin dafür, Produkte wie mit Chlor desinfiziertes Hühnchenfleisch zu kennzeichnen. Dann können die Verbraucher entscheiden, ob sie derartige Lebensmittel kaufen, die ja nicht der Gesundheit schaden.
Nicht alle Europäer setzen sich so stark wie der Exportstaat Deutschland für das Abkommen ein. Das Agrarland Frankreich fürchtet Nachteile für seine Landwirtschaft, wenn die Handelsschranken fallen. Welche Ängste kursieren noch?
De Gucht: Die Franzosen sind traditionell keine Freihandelsfreunde. Dabei ist Frankreich in Europa das Land mit den meisten multinationalen Firmen. Daher würde es vom Wegfall der Schranken profitieren.
Wir können Agrar-Produkte nicht von den Gesprächen mit den USA ausnehmen, sonst brauchen wir uns erst gar nicht an den Verhandlungstisch setzen. Das würde Europa schaden. Noch etwas: Dank des Handels mit nichteuropäischen Staaten hat die EU eine wirklich tiefe Wirtschaftskrise abwehren können. Europa als Ganzes ist in der Welt sehr wettbewerbsfähig, auch wenn es Unterschiede innerhalb der EU gibt.