Rückblick2015: Fünf gute Gründe für das heftige Streikjahr

Frankfurt/Main (dpa) - So viel gestreikt wie im abgelaufenen Jahr wurde in Deutschland schon lange nicht mehr. Meistens legten kleine Gruppen die Arbeit nieder, was aber wegen ihrer beruflichen Schlüsselstellung dennoch zu großen Auswirkungen führte.

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Während Lokführer, Paketboten und Erzieher schließlich doch noch zu Kompromissen fanden, zeichnet sich bei der Lufthansa für 2016 nur ganz allmählich Frieden ab. Für die gefühlte Streikflut gibt es gute Gründe:

ES WIRD TATSÄCHLICH MEHR UND AN EMPFINDLICHEN STELLEN GESTREIKT.

Nach Berechnungen des arbeitgebernahen Institut der Wirtschaft Köln sind in diesem Jahr in Deutschland an die 960 000 Arbeitstage durch Streiks ausgefallen. Seit der Wiedervereinigung wurde nur 1992 mehr gestreikt, sagt das IW. Heiner Dribbusch vom gewerkschaftsnahen WSI-Tarifarchiv kommt in einer ersten Schätzung sogar auf 1,7 Millionen Streiktage, will aber den Vergleich zur amtlichen Statistik 1992 nicht ziehen, die tendenziell eher zu niedrig liege. Rund 1,5 Millionen Streiktage seien 2015 allein auf Streiks im Organisationsbereich von Verdi entfallen, darunter die langen Konflikte bei der Post und im Sozial- und Erziehungsdienst. Viele der kleineren Streiks trafen empfindliche Stellen der Infrastruktur wie das Bahnnetz oder die Flugverbindungen, so dass sehr viele Menschen betroffen waren und die Medien entsprechend breit berichteten. Wegen des jüngsten Flugbegleiterstreiks bei der Lufthansa musste mehr als eine halbe Million Passagiere umbuchen.

ES GEHT UM BESITZSTÄNDE DER ARBEITNEHMER.

Mehr arbeiten für das gleiche Geld und dazu noch um die bislang garantierte Rente zittern? Das sind zwei Forderungen, mit denen Lufthansa ihr Personal konfrontiert hat. Auch die komfortablen Frührenten für das fliegende Personal ab einem Alter von 55 Jahren will das Unternehmen beschneiden. Die Betroffenen wollen diese Besitzstände für sich und möglichst auch für ihre Nachfolger retten, schon um eine interne Kostenkonkurrenz zu vermeiden. Beim Paketdienst der Deutschen Post verhinderte Verdi nur für die Stammbeschäftigten Versetzungen in neue Billig-Töchter, in denen 20 bis 30 Prozent schlechter gezahlt wird. „Bei solchen Abwehrstreiks ist es viel schwieriger, einen Kompromiss zu finden als bei reinen Lohnrunden“, sagt IW-Experte Hagen Lesch. Nach seiner Beobachtung hat die Intensität und Dauer der Konflikte deutlich zugenommen.

ODER DIE GEWERKSCHAFTEN WOLLEN AUF TARIFPOLITISCHES NEULAND.

Ebenso zäh wie Abwehrstreiks sind Erzwingungsstreiks wie etwa beim Onlinehändler Amazon. Verdi will die US-Firma mit immer neuen Arbeitsniederlegungen dazu bringen, ihre Angestellten nach dem besser dotierten Tarif für den Versandhandel und nicht wie bislang nach dem für Logistiker zu bezahlen. Weit über das übliche Forderungsmaß ging Verdi bei den Kita-Erzieherinnen hinaus und verlangte durch höhere Einstufungen Steigerungen mit einem Volumen von rund zehn Prozent. Nach heftigen Streiks kamen dann laut Verdi Lohnsteigerungen von 3,7 Prozent heraus.

DIE GEWERKSCHAFTEN STEHEN IN SCHÄRFERER KONKURRENZ ZUEINANDER.

Geradezu mustergültig war das bei der Deutschen Bahn zu besichtigen. Kurz vor Einführung des politisch auf sie gemünzten Tarifeinheitsgesetzes wollte die Lokführergewerkschaft GDL ihre Machtbasis vergrößern, um nicht auf ewig in ihrer Nische gefangen zu bleiben oder sogar ihre Tarifmacht zu verlieren. Gegen erheblichen Widerstand der Bahn und der Konkurrenzgewerkschaft EVG setzte Claus Weselsky eigene GDL-Tarifverträge für das gesamte Zugpersonal durch. Dass sie auf Drängen der Bahn inhaltlich sehr weitgehend denen der EVG entsprechen, ist zweitrangig, denn die GDL hat erstmal den Fuß in der Tür und kann nun in weiteren Berufsgruppen um neue Mitglieder werben. Das Tarifeinheitsgesetz wird bis zum Jahr 2020 bei der Bahn möglicherweise nicht angewendet. Einen gewerkschaftlichen Überbietungswettbewerb, die sogenannten „englischen Verhältnisse“, gibt es nach Einschätzung des Tarifexperten Reinhard Bispinck von der DGB-eigenen Hans-Böckler-Stiftung aber auch nicht.

DIE LUFTHANSA STEHT AUCH VON AUSSEN UNTER DRUCK.

Aus den Zeiten des Quasi-Monopols genießen die Beschäftigten der ehemaligen Staats-Airline Lufthansa noch zahlreiche Privilegien, die die Stückkosten in die Höhe treiben. Die Konkurrenz aus Billigfliegern und staatlich gestützten Golf-Airlines nutzt ihre Vorteile für deutlich niedrigere Ticketpreise. Vor allem im Asienverkehr haben Lufthansa und die anderen traditionellen Netz-Carrier bereits einen großen Teil des Geschäfts verloren. Damit dies nach Nordamerika und innerhalb Europas nicht noch weiter fortschreitet, muss Lufthansa die Kosten senken. Mit der teils in Österreich angesiedelten Tochter Eurowings begeht der Konzern auch Tarifflucht aus Deutschland, die von den Gewerkschaften heftig bekämpft wird.