Überstunden sind ein Knackpunkt bei Bahn-Tarifgesprächen
Wie groß ist der Personalmangel bei der Bahn? Das Unternehmen bemüht sich verstärkt um Neueinstellungen. Doch es tut sich schwer damit, den Berg an Überstunden abzubauen.
Berlin. Die Entscheidung ist an diesem Mittwoch reif. Wenn die Lokführergewerkschaft und die Deutsche Bahn nicht doch noch einen gemeinsamen Nenner für eine Fortsetzung ihrer Tarifrunde finden, wird wohl wieder gestreikt. Mit 100 Stunden Arbeitsniederlegung, das sind vier Tage, droht die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL). Davon will die GDL nur absehen, wenn die Bahn ihr bestätigt, dass beide Seiten künftig unabhängig von Tarifverträgen verhandeln, die mit der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) bestehen.
Der zähe Zank um die Vertretungsmacht ist erst einmal der springende Punkt. Die GDL will aber auch endlich über Einkommen und vor allem Arbeitszeiten reden. „Die millionenschweren Überstunden des Zugpersonals müssen dringend und nachhaltig reduziert werden“, verlangt der GDL-Vorsitzende Claus Weselsky. Dabei ist er sich mit dem EVG-Chef Alexander Kirchner einig: Der hält die Situation für „total unbefriedigend“. Seit Jahren komme die Bahn nicht von ihrem Berg an Überstunden herunter.
Für Dezember wies die Personalstatistik der Bahn eine Summe von 7,7 Millionen Überstunden aus. Ein Jahr zuvor waren es 7,9 Millionen. Hinzu kommen noch 5,4 Millionen Stunden an offenen Urlaubsansprüchen. Verteilt man die Mehrarbeit auf die betroffenen 164 500 Mitarbeiter, so kommt man auf 46,8 Stunden, mit Urlaubsansprüchen sind es etwa 80 Stunden. Besonders viel hat sich laut Personalbericht bei den 18 200 Lokführern angesammelt: 2,1 Millionen Überstunden und 900 000 Stunden Urlaub, im Durchschnitt sind das 165 Stunden Freizeitanspruch pro Person.
Die GDL fordert deshalb, nur noch 50 statt wie bisher eine unbegrenzte Zahl Überstunden pro Jahr zu erlauben. Zugleich pocht Weselsky auf eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit um eine Stunde. Sein Kalkül: Wird das Arbeitszeitbudget noch knapper, muss die Bahn mehr Leute einstellen. „Die Bahn versucht ja seit langem, über Langzeitkonten ihre riesigen Personallücken zu verdecken“, sagte Weselsky kürzlich der „Wirtschaftswoche“.
Die Bahn verweist darauf, umgesteuert zu haben. Personalvorstand Ulrich Weber: „Wir nehmen das Thema Mehrarbeit sehr ernst, haben bereits angefangen, die vor allem in den vergangenen Jahren angehäuften Überstunden abzubauen, zum Beispiel durch mehr Einstellungen.“ Rund 34 000 Mitarbeiter habe der Konzern seit 2012 in Deutschland eingestellt. Bis zu 8000 sollen es in diesem Jahr sein.
Ein Großteil davon ersetzt Mitarbeiter, die in den Ruhestand gehen. So dürfte etwa in der Netzsparte bis 2025 jeder dritte Arbeitsplatz neu besetzt werden, sagte deren Personalchefin Ute Plambeck. Die Bahn öffnet sich auch Quereinsteigern, die bereits eine abgeschlossene technische Berufsausbildung haben und dann in zehn Monaten zum Lokführer oder Fahrdienstleiter ausgebildet werden.
EVG-Chef Kirchner räumt ein, dass es für die Bahn nicht einfach ist, Ingenieure oder andere Fachkräfte zu gewinnen. Vor allem im Raum München und rund um Stuttgart sei „der Arbeitsmarkt leer gefegt“. Dennoch wünscht er sich noch mehr Engagement der Bahn. Sie müsse wieder mehr eigene Ausbildungsstätten schaffen, von denen viele in den Jahren des Personalabbaus bis 2009 geschlossen worden seien. Es sei auch ein Fehler, immer nur die Besten auslesen zu wollen. „Wir brauchen auch Hauptschüler, das sind später die treuesten und stabilsten Mitarbeiter“, sagte Kirchner.
Für ihn ist letztlich die Zahl der Einstellungen nicht die entscheidende Größe. Es komme auf das Ergebnis an, die tägliche Arbeitspraxis. „Die Kollegen wollen Planungssicherheit. Sie wollen die Sicherheit, dass sie ihren Urlaub auch wirklich nehmen können, dass sie nicht immer wieder zu Mehrarbeit gezwungen sind.“
In diesem Sinne hat der Konzernbetriebsrat Anfang 2014 mit der Bahn eine Betriebsvereinbarung geschlossen. Ihr Ziel ist es, Überstunden durch entsprechende Personalplanung von vornherein zu vermeiden. Kirchner hält dies für einen wichtigen Schritt. Doch er rechnet noch mit einem langen Weg: „Die verfehlte Personalpolitik von 20 Jahren ist nicht in zwei Jahren zu korrigieren.“