Zwang zur Tarifeinheit verfassungswidrig?

Der frühere Karlsruher Richter Udo Di Fabio kritisiert die entsprechenden Pläne der schwarz-roten Koalition.

Am Freitag die Piloten, am Samstag die Lokführer: Durch die anhaltenden Warnstreiks müssen Zehntausende Passagiere viel Geduld aufbringen. Ein Ende des Tarifkonflikts ist nicht in Sicht.

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Berlin. Im Konflikt um die gesetzliche Festschreibung der Tarifeinheit haben kleine Spartengewerkschaften jetzt juristische Schützenhilfe bekommen. Nach einem am Freitag veröffentlichten Gutachten des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Udo Di Fabio verstoßen die Pläne der Bundesregierung gegen das Grundgesetz. Nicht ausgeschlossen, dass sich Schwarz-Rot davon verabschieden muss.

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Ein Betrieb, ein Tarifvertrag. Was lange Zeit gewissermaßen ungeschriebenes Gesetz war, hat sich stark gewandelt. Bei der Lufthansa zum Beispiel, deren Piloten am Freitag streikten, wird die Arbeitnehmerschaft nicht nur durch die große Gewerkschaft Verdi vertreten, sondern auch durch die Pilotenvereinigung Cockpit und die Flugbegleiter-Organisation Ufo. Bei der Bahn, deren Lokführer am Samstag streiken, liefern sich die Gewerkschaften GDL und EVG sogar einen harten Konkurrenzkampf um mehr Macht. Nicht zuletzt deshalb will die große Koalition jetzt gesetzlich festschreiben, dass in einem Betrieb nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern maßgebend sein soll. Das Problem: Kleinere Gewerkschaften sehen sich dadurch in Arbeitskämpfen unzulässig benachteiligt.

Der Direktor des Bonner Instituts für Öffentliches Recht, Udo Di Fabio, teilt diese Sichtweise. In einem Rechtsgutachten für die Klinikärzte-Gewerkschaft Marburger Bund kommt der Ex-Bundesverfassungsrichter zu dem Schluss, dass das Regierungsvorhaben mit der so genannten Koalitionsfreiheit im Grundgesetz kollidiert. Demnach steht es jedem frei, ob er sich in einer Gewerkschaft organisiert und wenn ja, in welcher. Eine Interessenvertretung, der die Hände gebunden sind, wäre unattraktiv. „Dem Staat steht es nicht zu, eine Gewerkschaft zu zwingen, zurückzustehen“, meinte Di Fabio. Wenn er es doch tue, dann brauche es dafür „schwerwiegende Gründe“. Es gebe aber keine „schwerwiegende Gefahrenlage“ durch bisherige oder aktuelle Tarifauseinandersetzungen.

Im Bundesarbeitsministerium nahm man das Gutachten „zur Kenntnis“, wie eine Sprecherin am Freitag erklärte. Kürzlich war bekannt geworden, dass Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) zwar ins Gesetz schreiben wolle, dass der Tarifvertrag der mitgliederstärksten Gewerkschaft maßgebend sei, aber nicht den ursprünglich vorgesehenen Zusatz, wonach für die kleinere Gewerkschaft dann eine Friedenspflicht gelte. Nach Überzeugung Di Fabios würde sich in der Praxis jedoch das eine aus dem anderen ergeben, auch wenn es nicht extra erwähnt ist. Denn wenn eine Gewerkschaft keine eigenen Tarifforderungen durchsetzen dürfte, macht auch ein Streikaufruf keinen Sinn. Eine solche Gesetzeslösung wäre nur ein „Trick“, der „Frontalangriff“ gegen kleine Gewerkschaften bliebe erhalten, meinte auch der Chef des Marburger Bundes, Rudolf Henke, der für die CDU im Bundestag sitzt.

Muss die Regierung ihr Vorhaben also beerdigen? Die Gefahr, dass ein entsprechendes Gesetz am Ende in Karlsruhe scheitert, ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen.