Der unerwartete Siegeszug der Wikipedia

Berlin (dpa) - Ein Lexikon, an dem jeder mitschreiben darf - egal ob Schüler oder Professor? Artikel, die teils im Minutentakt geändert werden? Und das alles finanziert mit den Spenden der Leser?

Vor zehn Jahren, als Internet-Unternehmen der ersten Stunde reihenweise pleitegingen, hätte kaum jemand gedacht, dass so ein zuverlässiges Nachschlagewerk entstehen kann - und dass diesem nicht binnen Monaten das Geld ausgeht.

Und doch begann im Januar 2001 die Wikipedia ihren Siegeszug. Heute ist sie für viele Nutzer nicht mehr wegzudenken. Die Geschichte eines unwahrscheinlichen Erfolges. Ungewöhnlich war schon das Duo, das die Enzyklopädie gründete. Jimmy Wales, Jahrgang 1966, betrieb mit einem Kompagnon das Portal Bomis.com. Geld verdiente es mit Männer-Unterhaltung: Sport, Klatsch - und nackten „Babes“.

Aus den Einnahmen der Firma steuerte er das Startkapital bei, ließ ansonsten aber Larry Sanger freie Hand. Die beiden hatten sich bei Diskussionen über Philosophie im Internet kennengelernt. Sanger, Jahrgang 1968 und promovierter Philosoph, wurde „Chefredakteur“ der Nupedia, aus der bald die Wikipedia hervorging.

Dass Tausende Nutzer gemeinsam ein Lexikon schreiben können, glaubte auch Sanger nicht. Bei dem Vorläufer der Wikipedia, der Nupedia, war die Auslese streng. Im Prinzip durfte zwar jeder mitmachen. Allerdings mussten Autoren renommierte Experten für ihr Thema sein. Und Korrekturleser hätten meist einen Doktortitel in ihrem Wissensbereich, betonte Sanger damals.

Sieben Kontrollen musste ein Artikel durchlaufen - mehr als bei einem wissenschaftlichen Journal. Der erste, es ging um Atonalität, war nach sieben langen Monaten im Netz. Im ersten Jahr kamen kaum mehr als 20 Texte zusammen.

„Es musste einen Weg geben, wie einfache Nutzer leichter mitmachen können“, sagte Larry Sanger später einmal. Die Wiki-Software sollte Abhilfe schaffen: Ein frei verfügbares System, mit dem Nutzer ganz einfach Webseiten anlegen und bearbeiten können. Alles was es brauchte, war ein Browser. Damit diese Artikel sich nicht mit der Nupedia vermischten, meldete Wales dafür eine eigene Domain an. Am 15. Januar 2001 ging Wikipedia online.

Das Wiki war nur als Test gedacht. Nach einem Monat standen 600 Artikel online und damit mehr als in der Nupedia. Nach einem Jahr waren es schon 20 000 - zur Überraschung der Gründer. Immer öfter tauchten die Texte ganz oben in den Suchergebnissen bei Google auf. Wikipedia wurde zur Referenz der wachsenden Onliner-Schar. Nicht immer zuverlässig, nicht immer gut geschrieben, aber sehr präsent. Lexika wie der Brockhaus kamen dagegen nicht mehr an.

Larry Sanger war da schon nicht mehr Chefredakteur. Im Streit über Kontrolle und Qualität verließ er Wikipedia 2002. Wales blieb - und gilt seitdem als Gründer des Lexikons. Seine Firma Bomis zog sich allerdings zurück: Wales gründete 2003 die Wikimedia-Stiftung und übertrug ihr Namensrechte und Server. Das Lexikon und seine Schwesterprojekte finanzieren sich über Spenden.

Damals wie heute lautet die Frage: Warum arbeiten Tausende von Autoren in ihrer Freizeit an Artikeln, ohne dass später ihr Name darunter steht? Und auf die Gefahr hin, dass jemand anders ihre Mühe mit einem Mausklick ändert oder löscht?

Der Soziologe Christian Stegbauer hat das „Rätsel der Kooperation“ im gleichnamigen Buch untersucht. Den Reiz für die Wikipedianer sieht er zum einen in der Idee: „Das Wissen der Menschheit zu sammeln, und zwar außerhalb der Schranken des Urheberrechts, hat eine gewisse Anziehungskraft“, sagt der Forscher, der momentan eine Professur für empirische Sozialforschung in Erfurt vertritt. Zum anderen vermutet er, dass es den Mitarbeitern nicht um Ruhm gegenüber der Außenwelt geht, sondern um Reputation innerhalb der Gemeinschaft.

In einem Forschungsprojekt stellte Stegbauer jedoch fest, dass die Legende vom egalitären Mitmach-Lexikon nicht mehr stimmt. Es habe sich eine „Herrschaft der Administratoren“ etabliert - einem kleinen Kreis von Mitarbeitern, die sich durch Engagement bewährt und von der Community besondere Rechte bekommen haben. In Deutschland halten ein paar Tausend Aktivisten die Wikipedia am Laufen.

Dieser Zirkel hat strenge Regeln für Mitarbeiter formuliert - Stegbauer nennt sie gar eine „Produktideologie“. In Deutschland ist vor allem die Relevanz immer wieder ein Streitthema. Die Liste mit Relevanzkriterien ist umgerechnet rund 30 DIN-A4-Seiten lang und formuliert Regeln für Hunderassen, Pornostars und Brauereien. Viele Neulinge blicken nicht mehr durch - und steigen aus. „Man will Leute, die keine Ahnung haben, draußen halten“, sagt Stegbauer.

Und so hat Wikipedia im Jubiläumsjahr Nachwuchssorgen. „Wir haben Millionen von Lesern. Aber verhältnismäßig wenige wissen überhaupt, dass sie mitmachen können“, sagt Catrin Schoneville, Sprecherin des Wikipedia-Fördervereins Wikimedia. Um Autoren zu gewinnen, investiert der Verein einen Teil der Spenden in Projekte für Senioren oder Schüler - damit der unerwartete Erfolg der Wikipedia nicht bei den heute 1,2 Millionen deutschen Artikeln endet.