Feature: Internet-Szene übt sich in Selbstkritik

Berlin (dpa) - Vor einem Jahr war die Begeisterung groß auf der Berliner Internetkonferenz re:publica.

Nach einer beispiellosen Twitter- und YouTube-Kampagne gingen Zehntausende auf die Straße und kippten das Urheberrechtsabkommen Acta. In diesem Jahr ist Ernüchterung eingekehrt. Die siebte re:publica glänzt zwar mit einem Rekord von 5000 Teilnehmern.

Doch politisch schafft es die Netz-Szene kaum noch, Entscheidungen wirksam zu beeinflussen. In den eigenen Reihen wächst die Kritik, dass sich die Community zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

„Die Netzgemeinde ist die Hobbylobby für das freie, offene und sichere Internet“, spottete Vorzeige-Blogger Sascha Lobo. Es reiche nicht, gemeinsam im Internet wütend zu sein und die eigenen Feindbilder zu pflegen. Wer Politik gestalten wolle, müsse auch Verbündete suchen und mal fragen, wie sich Bundeskanzlerin Angela Merkel überzeugen lasse.

Auch aus der Politik kommt die Forderung nach mehr Ideen. „Wir brauchen einfach mehr Input von der Netz-Community“ sagte der CDU-Bundestagsabgeordnete Thomas Jarzombek während einer Diskussion am Mittwoch.

Das Wissen der Netzgemeinde sei für Netzpolitiker wie ihn wichtig. Gleichzeitig ermahnte auch er die Teilnehmer, sich mehr in die Politik einzubringen. Es reiche nicht, am Computer Online-Petitionen zu unterschreiben. „Zu jedem dieser Themen gibt es Verbündete“, sagte er. Die Netzpolitiker bräuchten die Unterstützung der Szene auch, um sich in ihren Parteien Gehör zu verschaffen.

Re:publica-Mitveranstalter Markus Beckedahl riet der Szene zu langem Atem. „Die Umweltbewegung hat auch 30, 40 Jahre gebraucht, um politische und gesellschaftliche Mehrheiten zu erreichen“, sagte er der Nachrichtenagentur dpa. „Es kann gut sein, dass wir durch das Internet viel eher dieses Ziel erreichen. Aber es ist natürlich ein harter Weg.“

Beckedahl ist einer der umtriebigsten Netzaktivisten. Als Sachverständiger der Grünen diskutierte er in der Enquete-Kommission zum Internet mit Bundestagsabgeordneten über künftige Netzpolitik, er gründete den Verein „Digitale Gesellschaft“ mit und organisiert seit 2007 jedes Jahr die re:publica.

Unterstützung könnte er gebrauchen: „Es gibt viel zu viele Menschen, die immer nur meckern, und viel zu wenig Menschen, die handeln“, sagte er. Netzaktivisten sollten nicht frustriert aufgeben, wenn sie sich nicht sofort politisch durchsetzen könnten, sondern hartnäckig bleiben.

Wie existenziell wichtig das ist, machten auf der re:publica Blogger aus China und Kuba deutlich. Die kubanische Autorin Yoani Sánchez sagte, die sich im Netz bietende Freiheit müsse auch das wirkliche Leben erfassen. Sie nahm am Dienstagabend einen bereits 2008 verliehenen Preis der Deutschen Welle entgegen.

Dass es auch in westlichen Ländern Einschränkungen der Freiheit gibt, erfuhr Andriankoto Harinjaka Ratozamanana aus Madagaskar, der als Redner der re:publica eingeladen war, bei einer Zwischenlandung in Paris aber erst einmal für drei Tage in Abschiebehaft genommen wurde, ehe er doch noch an der Konferenz teilnehmen konnte.

„Demokratie ist Arbeit und erfordert jeden Tag eure Aufmerksamkeit“, mahnte die isländische Parlamentsabgeordnete Birgitta Jónsdóttir. Die WikiLeaks-Unterstützerin ist optimistisch, dass das Internet die Politik auf Dauer von Grund auf erneuern wird. Jeder Einzelne habe da eine Verantwortung, sich bei der Gestaltung der künftigen Gesellschaft mit einzubringen.

Statt großer gesellschaftlicher Entwürfe geht es der nächsten Netzgeneration eher um die kreative Selbstdarstellung. „YouTube macht die Stars von heute“, hieß es auf einem Podium im vollbesetzten Saal am Montag. Ihre YouTube-Videos sammeln zehntausende Klicks, junge Filmemacher wie Simon Wiefels finanzieren sich so einen Teil ihres Studiums. Dass es da nicht nur Likes, sondern auch mal Hasskommentare gibt, gehört für die „Digital Natives“ dazu.

Aber in Berlin hatten sich alle sehr lieb, die Netzbewohner auf ihrem Klassentreffen re:publica. Jetzt müssen die Hausaufgaben gemacht werden, Bundestagswahl und die Beratungen zur EU-Datenschutzverordnung stehen an. Auch in der Debatte um die geplante Bandbreiten-Drosselung im Festnetz der Deutschen Telekom fordert die Netzszene ein Eingreifen der Politik. Beckedahl hat die Öffentlichkeit jenseits der eigenen Nische im Blick: „Es ist ganz viel Aufklärungsarbeit zu leisten.“