Feature: Klangwelten aus dem Twitter-Universum
Berlin (dpa) - Jede Sekunde rauschen tausende von Tweets durchs Internet. Diesen nie abreißenden Strom von Mitteilungen bringt das digitale Kunstprojekt „Tweetscapes“ zum Klingen.
Die elektronischen Sounds brachten am Dienstagabend den Berliner Club Berghain zum Beben: Hashtags (Stichwörter) werden als Bass-Drops im Magen spürbar, Retweets (das Weitersenden von Tweets) erzeugen ein Echo, persönlichere Mitteilungen ein vielstimmiges Flüstern.
„Die Sounds werden komplett algorithmisch hergestellt“, erklärt der Musiker Anselm Venezian Nehls, der auch programmiert und die Software für Tweetscapes als Teil seiner Master-Arbeit an der Universität der Künste Berlin (UdK) entwickelt hat. „Für diesen Abend haben wir ausnahmsweise zwei Sounds reserviert. Immer wenn dieses tiefe Umpf kommt, dann twittert einer über Tweetscapes oder über Berghain.“
Ansonsten aber sind alle Hashtags gleichberechtigt. Es gibt vier verschiedene Klangstreams: Alle Tweets mit einem Hashtag, Tweets zu den besonders oft verwendeten Hashtags der „Trending Topics“, Tweets an eine bestimmte Person sowie schließlich alle sonstigen Tweets. „Diese vier verschiedenen Arten von Signalen haben wir auf verschiedene Spuren gelegt“, erklärt Nehls.
An seinem Mac schiebt er die Regler des Mischpults hoch und reagiert so live auf die über Twitter eingehenden Daten, die seine Software in Klänge überträgt. „Wir wissen vorher nicht was reinkommt. Ich muss mich mich in irgendeiner Weise dazu verhalten und steuern, mal gucken, was passiert.“
Erfasst werden auch die Geodaten der Tweets: West und Ost, Nord und Süd, werden im Raumklang verteilt. Gleichzeitig zeigt eine Karte an, wo gerade getwittert wird, dazu flackern die jeweiligen Hashtags auf.
Der ebenfalls an dem Projekt beteiligte Informatiker Thomas Hermann vom Cognitive Interaction Technology Center (CITEC) der Universität Bielefeld erklärt, dass auch die Zahl der Follower, die Länge der Nachricht oder die Einbindung von Smileys den Klang beeinflussen - „auf sehr systematische Weise, so das man über das Hören etwas erfährt über die Nachricht“. Der eigentliche Tweet-Inhalt spielt dagegen keine Rolle.
Der Auftrag für Tweetscapes kam vom Deutschlandradio Kultur. Klangkunstredakteur Marcus Gammel erklärt im Berghain, die Tweetscapes seien Auftakt einer neuen Reihe von „sonorisationen“: „Da geht es darum, Dinge hörbar zu machen, die man normalerweise nur sehen, lesen oder messen kann - das erfahrbar zu machen, was sich in der abstrakten Datenwelt abspielt.“
Ähnlich wie bei der Visualisierung von Daten mit Hilfe von interaktiven Grafiken will auch die „Sonifikation“ von Daten nicht nur Hörvergnügen bereiten, sondern auch ein anderes Verständnis von Daten ermöglichen. Man müsse sich erst ein wenig einhören, sagt Gammel. Dann aber ermögliche diese Technik „ein leichteres Verstehen von komplexen Strukturen, einen emotionaleren und intuitiveren Bezug“.
Zum Abschluss des Tweetscapes-Auftritts kommen ein Schlagzeuger, ein Gitarrist und ein Bassist mit auf die Bühne und reagieren mit ihrer Live-Musik auf die Klänge aus dem Netz - bis zum finalen „twoff“ - Twitter offline. Im Netz aber geht es weiter, das klangvolle Twitter-Rauschen. Hier kann man sich von den Sounds auch zu eigenen Kreationen inspirieren lassen, wie Nehls sagt: „Wer möchte, darf gerne remixen, was das Zeug hält.“