„Inside Anonymous“: Weltverbesserer und Spaßanarchisten
Berlin (dpa) - Es ist stiller geworden um den Netz-Untergrund der Anonymous-Bewegung. Die Angriffe der „Anons“ machen nicht mehr die ganz großen Schlagzeilen wie noch 2011.
Doch die Hacktivisten, wie die politisch motivierten Hacker-Aktivisten genannt werden, haben „einen Weg gefunden, das öffentliche Bewusstsein zu packen“, schreibt die Londoner Journalistin Parmy Olson in ihrem jetzt auch auf Deutsch erschienenen Buch „Inside Anonymous“. „Sie halten es immer noch fest - und sie werden nicht loslassen.“
Olsons Bericht „aus dem Innenleben des globalen Cyber-Aufstands“ reiht sich ein in eine Reihe von Neuerscheinungen über das Phänomen Anonymous. Bereits im Februar haben die „Spiegel“-Autoren Ole Reissmann, Christian Stöcker und Konrad Lischka das Buch „We are Anonymous“ vorgelegt, das die Anfänge der Bewegung, einzelne Akteure, Denkweisen und prominente Aktionen darstellt. Im nächsten Jahr wird dann die amerikanische Wissenschaftlerin Gabriella Coleman ihr Buch zu den Hacktivisten vorlegen - die Professorin gilt als führende Anonymous-Expertin.
Olson beginnt ihre Studie mit einem Krimi: Aaron Barr, Manager einer Firma für Internetsicherheit, hat sich mit Interna der Szene beschäftigt und steht in Kontakt mit dem FBI. Er soll sogar die Klarnamen einiger „Anons“ kennen. Das gefällt diesen gar nicht. Anonymous schlägt zurück, Hacker verschaffen sich das E-Mail-Passwort - das der Sicherheitsexperte unvorsichtigerweise auch für seinen Twitter-Account und andere Dienste verwendet. Anschaulich schildert das Buch, wie Barr aus seinem Mail-Account ausgesperrt wird, wie die Webseite seiner Firma verändert wird, mehrere zehntausend Mails veröffentlicht werden und das alles über Twitter verbreitet wird.
„Der Raid gegen Aaron Barr im Februar 2011 sollte in mehrfacher Hinsicht zu einem Wendepunkt für Anonymous werden“, resümiert die Autorin. „Er zeigte, dass das Kollektiv durch den Datendiebstahl viel nachhaltigere Wirkung erzielen konnte als durch bloßes Blockieren einer Webseite.“
Die nächsten Angriffe ließen nicht lange auf sich warten. Bei Sony, einem Lieblingsziel der Hacker, fanden einige unter der Flagge LulzSec agierende „Anons“ Sicherheitslücken bei wichtigen Datenbanken. Die Daten seien so umfangreich gewesen, dass der Download drei Wochen gedauert habe, heißt es bei Olson über den für Sony folgenschweren Angriff.
Die Journalistin, Londoner Bürochefin des US-Magazins „Forbes“, verbrachte nach eigenen Angaben ein Jahr mit Recherchen über Anonymous, war unterwegs in deren Chat-Räumen und traf einzelne Aktivisten der Bewegung. Die Darstellung der Wurzeln von Anonymous im Internet-Forum 4chan.org sagt viel aus über Denkweisen und Motivationen in der Szene. Anonymous-Aktionen wie die gegen Scientology oder zur Unterstützung von Wikileaks werden aus der Perspektive von Akteuren wie der Hackerin Kayla nachgezeichnet.
Die Konzentration auf einzelne Personen und das Bedürfnis, eine spannende Geschichte zu erzählen, machen die Lektüre unterhaltsam. Aber bei diesem Blick kommen Fragen nach der gesellschaftlichen und netzpolitischen Dimension von Anonymous vielleicht etwas kurz.
Anonymous ist ständig im Fluss, bei jeder „Operation“ sind andere dabei, es gibt keine Führung und keine anderen Strukturen als die jeweilige Kommunikation. Viele sind aus Spaß dabei, wollen einen libertär-anarchischen Lebensstil ausleben. Andere sehen in Anonymous vor allem eine politische Bewegung. Dabei kennzeichnet all dies auch andere im Netz, die sich nicht als Teil von Anonymous verstehen. Das Etikett Anonymous steht dann letztlich nur für die Erkenntnis, dass das Internet den Menschen mehr Einfluss geben kann, dass sie, wie Olson schreibt, „eine Stimme haben, eine Rolle spielen“.