NSA nimmt Telefonate eines ganzen Landes ins Visier
Berlin/Washington (dpa) - 100 Prozent, diese Zahl sticht heraus. Der US-Geheimdienst NSA habe ein System entwickelt, mit dem er die Telefongespräche ganzer Länder abgreifen und abspeichern könne.
Das schreibt die Tageszeitung „Washington Post“. Es gehe nicht nur um die Telefonate einzelner Verdächtiger, sondern um alle Gespräche innerhalb eines Landes. Um 100 Prozent eben. In mindestens einem Land sei das System seit 2011 im Einsatz.
Fünf weitere Staaten werden in Haushaltsplänen von 2013 genannt, ein weiteres Land sei damals geplant gewesen, berichtet die „Washington Post“, ohne die Staaten genauer zu benennen.
In dem Programm mit dem Codenamen „Mystic“ (deutsch: mystisch) würden die Gespräche aufgesaugt. Für 30 Tage reiche der Datenspeicher, dann würden die ältesten Inhalte gelöscht. NSA-Mitarbeiter könnten die Datenbank durchsuchen und Gesprächsschnipsel ausschneiden, so die US-Zeitung.
„Dass das möglich war, wussten wir schon“, sagt der Politikwissenschaftler Johannes Thimm vom der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Es sei bereits vermutet worden, dass die NSA nicht nur Verbindungsdaten, sondern auch die Inhalte von Gesprächen sammele. Welches Land im Visier des Geheimdienstes sei, darüber wollte Thimm nicht spekulieren. „Ich würde vermuten, dass es nicht nur ein Land betrifft“, sagt er.
Doch wie kommt die NSA überhaupt an die Gesprächsdaten? Laut Björn Rupp gibt es technisch mehrere Wege, um Gesprächsinhalte im großen Stil abzugreifen. Er ist Geschäftsführer der Firma GSMK. Deren verschlüsseltes Cryptophone soll vor Überwachung schützen. Ein Geheimdienst wie die NSA könnte sich etwa an Knotenpunkten einklinken, sagt Rupp.
Die Daten müssten allerdings nicht nur abgefangen, sondern auch unbemerkt in die eigenen Rechenzentren weitergeleitet werden. „Wenn das nicht auffallen soll, muss man sich schon Hintertüren in der Netztechnik bedienen.“
Eine weitere Abhörmöglichkeit bestünde bei den Glasfaserkabeln, über die Internetdaten um die Welt geleitet werden. Viele Telefonate werden heute auch in Datenpaketen übertragen. Dass die NSA mit Hilfe ihrer Partner beim britischen Geheimdienst GCHQ die Glasfaserkabel anzapft, ist bekannt.
Hinzu kommt, dass es immer günstiger wird, selbst massive Datenmengen abzuspeichern. „Bei einem kleineren Land reicht schon ein einstelliger Millionenbetrag, um das ein Jahr zu speichern“, schätzt Rupp. Wer wisse, was technisch möglich sei, sei von den Berichten nicht überrascht.
Politisch ist die Frage heikler, besonders für US-Präsident Barack Obama. „Die Vereinigten Staaten spionieren keine Normalbürger aus, die unsere nationale Sicherheit nicht gefährden“, hatte Obama noch im vergangenen Sommer versprochen.
Solche Äußerungen können wohl nur noch mit viel Wohlwollen gelten. Zwar sei es nicht machbar, dass NSA-Mitarbeiter in Echtzeit allen Telefonaten von Normalbürgern lauschten, sagt Amerika-Experte Thimm. „Aber wenn Inhalte gespeichert werden, kann darauf zugegegriffen werden.“