Twitteratur - eine Modeerscheinung?

Berlin (dpa) - Die Digitalisierung verändert die Bücherwelt. Künftig wird es wohl ein Nebeneinander verschiedenster Literatur-Formate geben. Die Branche vertraut auf das „Prinzip Buch“ nach dem Motto: Lesen und Lesen lassen.

Jörg Maas verpasst bisweilen schon mal fast seine Haltestelle, wenn er in der Bahn zu sehr in sein Buch vertieft ist. Der Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen gehört damit zu einer schwindenden Zahl von Menschen, die sich über einen längeren Zeitraum ausschließlich der Literatur zuwenden. „Immer weniger Menschen lesen heute noch ein Buch von vorn bis hinten durch“, meint Simone Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung bei der Stiftung Lesen. Seiten-Zapping nimmt zu, Passagen, die langweilig erscheinen, werden übersprungen, der Umgang mit dem Buch ändert sich.

Wenn es nur das wäre: Twitteratur - also Werke gekürzt auf handliche 140 Zeichen, jederzeit veränderbare Literatur-Blogs im Internet, Handy-Romane und E-Books verändern Erscheinungs- und Verbreitungsform literarischer Inhalte. Darüber, ob es sich dabei um bloße Modeerscheinungen oder vielmehr um Meilensteine auf dem Weg zum signifikanten Wandel in der Literatur handelt, sind sich auch die Experten nicht einig.

Am Samstag (23. April), dem Welttag des Buches, soll es zunächst wieder um Werke, Leser, Autoren und ihre Rechte gehen. Bundesweit wird in Buchhandlungen der Band „Ich schenk dir eine Geschichte“ mit sieben „Mutgeschichten“ von bekannten Kinder- und Jugendbuchautoren ausgegeben, rund 680 000 Kinder haben dafür Gutscheine erhalten. Bibliotheken und Verlage veranstalten Lesefeste. Im Mittelpunkt steht natürlich das Buch - egal, in welcher Form.

Der elektronischen Variante, dem E-Book, könnten besonders die neuen Tablet Computer zum Durchbruch verhelfen. Ob dies - wie der Börsenverein des Deutschen Buchhandels verkündet - nun schon in diesem Jahr der Fall sein wird, wird von Branchenbeobachtern bezweifelt. Derzeit sprechen die Zahlen noch eine andere Sprache: Lediglich zwei Prozent der Deutschen bevorzugen elektronischen Lesestoff. 82 Prozent kaufen ausschließlich oder weitgehend gedruckte Bücher. Die Verlage gehen aber davon aus, dass sich das bald ändert.

„Da ist viel Spekulation im Spiel“, sagt Boris Langendorf vom gleichnamigen Internet-Branchendienst. Im wissenschaftlichen Bereich habe das E-Book längst seinen Durchbruch gefunden, bei den Romanen sei dies in Deutschland noch längst nicht der Fall. Zu groß das haptische Vergnügen, nicht grundlos will Karl Lagerfeld ein neues Parfüm mit dem Duft von Büchern kreieren. Anders in den USA: „Dort ist das E-Book inzwischen auch bei Lieschen Müller angekommen“, meint Langendorf. Hierzulande werde die Entwicklung vor allem von Wissenschaftlern, Profis und E-Freaks getragen, die das neu, modern und kultig fänden.

Ohne gedruckte Bücher wird die Welt auch in den nächsten 2000 Jahren nicht auskommen, meint Jörg Maas, auch wenn andere Medien ergänzend hinzukommen. Als „Inseln der Ruhe im Meer der schnellen aktuellen Information“ stehen sie auch weiterhin für Rückzug und Reflexion, für ruhige, sachliche Hintergrundinformation“, meint Stephan Füssel, Leiter des Instituts für Buchwissenschaft in Mainz. Das entscheidende Stichwort der künftigen Entwicklung sei aber das der „Medienkonvergenz“, also das Zusammenwachsen verschiedener Medien in einer digitalen Informationsquelle: „Der Leser der Zukunft trägt seine Bibliothek in seiner Tasche stets bei sich.“ Bald werde es kaum noch Texte ohne audiovisuelle Zusatzinformationen geben.

Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels als Dachverband der Branche trägt der Entwicklung schon mal in einem neuen Logo Rechnung: Statt des bisherigen aufgeschlagenen Buches, ist es jetzt ein abstrakter Pfeil. „Am Kern des Buches wird sich nichts ändern“, meint Hauptgeschäftsführer Alexander Skipis. Egal, in welcher Form es erscheine: „Das Buch als Prinzip ist nahezu unsterblich.“ Oder um es mit Arthur Schopenhauer zu sagen: „Ohne Bücher auf der Welt wäre ich längst verzweifelt.“