Buchmesse: Leipzig lockt die Lese-Jugend
Ingo Schulze, Saul Friedländer und Swetlana Geier sind Buchpreisträger 2007.
Leipzig. Schneepflüge räumen vor den Toren, drinnen aber präsentiert sich die Leipziger Buchmesse am ersten Tag übersichtlich und mit riesigem Andrang vor allem von jungen Leuten, aber auch vom Fachpublikum. Die Messe hat die Wege zwischen den Hallen verbessert, so dass das attraktive Publikumsgedränge sich nicht zur Literaturverstopfung verdichtet. Den meisten wird ein Tag genügen, um alle wichtigen Stände zu besuchen. Völlig überfordert sind die Besucher aber, wenn sie die Einladung zu "Leipzig liest" annehmen. 1900 Veranstaltungen an vier Tagen!
Angewandte Europäische Integration übt in diesem Jahr besonders Slowenien mit einer eindrucksvollen Präsentation: "Kleine Sprachen - große Literaturen"! Der Klagenfurter Verleger Lojze Wieser säbelte zur Eröffnung des slowenischen Standes virtuos hauchdünne Scheiben eines "Prosciutt" aus dem Nachbarland. Kroatische Autoren lasen aus einem weiteren, noch vor den Toren der EU harrenden Zerfallsprodukt Jugoslawiens. Dagegen fragte Navid Kermani im Gespräch mit Übersetzern: "Was ist deutsch an der deutschen Literatur?"
Bis spät in die Nacht hinein zog sich ein Programm, das ganz Leipzig mit Hunderten von Leseorten in Europas größtes Lesefest einbezieht. Wer Glück hatte, konnte Iris Berben in der Evangelisch-Reformierten Kirche zuhören, als sie aus Anna Politkowskajas nachgelassenem "Russischen Tagebuch" las.
Höhepunkt dieses ersten Messetages war aber zweifellos die Verleihung des in drei Kategorien zu je 15 000 Euro vergebenen Preises der Leipziger Buchmesse.
Unter hunderten eingereichten Vorschlägen setzte sich Ingo Schulze mit "Handy" (Berlin Verlag) gegenüber Wilhelm Genazino mit "Mittelmäßiges Heimweh" (Hanser) und Antje Rávic Strubel mit ihrem wettergerechten Roman "Kältere Schichten der Luft" (S.Fischer) durch. Es gelinge Ingo Schulze, so die Jury, "in virtuoser Weise die klassischen Formen der Kurzgeschichte für die Erfassung der Gegenwart fruchtbar zu machen." Die aus der Lakonie des Erzähltons entstehende Komik sei das Gegengewicht zu einer Tragik des menschlichen Daseins, die Schulze auch im vordergründig Unspektakulären sichtbar mache.
Die Kategorie Sachbuch/Essayistik ermöglicht den Blick auf einen weiter gefassten Literaturbegriff. Die nominierten Titel fassen kaum die Bandbreite der Möglichkeiten. Saul Friedländer hat mit dem zweiten Band seiner Untersuchung "Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939-1945" (C.H. Beck) ein grundlegendes Werk der Geschichtsschreibung vorgelegt. "Wer es liest, wird nicht nur aufgeklärt, sondern auch aufgewühlt", urteilte die Jury.
In der Kategorie Übersetzung ging der Preis an die in Freiburg lebende Swetlana Geier, die mit "Ein grüner Junge" die neue Übersetzung der Romane Dostjewskijs grandios abgeschlossen hat (Amman Verlag, Zürich). Die Jury lobte besonders, dass diese Übertragung "jegliche Sprödigkeit von der Sprache abschüttelt und Dostjewski gewissermassen wie von allein in unsere Sprachwelt hereinholt."
Die Jury stand unter dem Vorsitz von Martin Lüdke vom SWR. Ihr gehörten in diesem Jahr Franziska Augstein (Süddeutsche Zeitung), Ulrich Greiner (Die Zeit), Michael Hametner (MDR), Richard Kämmerlings (FAZ), Sigrid Löffler (Literaturen) und Uwe Justus Wenzel (Neue Zürcher Zeitung) an.