Düsseldorf. "So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber aus dem Wort Gottes" steht über der Kanzel der 1886 erbauten Lutherkirche in Köln-Nippes. Der neogotische Backsteinbau mit seinem ungeteilten Predigtraum war kein schlechter "Spielort" für Ingo Schulze bei der lit.Cologne. Nicht, dass der Autor sich als Prediger versteht. Aber die Erzählungen seines Bandes "Handy" ähneln Epiphanien des Alltags, wo in der Beschreibung des Beiläufigen, dem Mäander der Augenblicke plötzlich Sinn greifbar wird.
Die Geschichte vom Zirkusbären auf dem Damenfahrrad
Es war denn auch die Beglaubigung des Einfachen, zu dem Moderatorin Julia Schröder den Autor sofort befragte. Ich-Form als Ausweis des autobiographischen Gehalts? Ingo Schule, der gerade einen Stipendimsaufenthalt in der Villa Massimo in Rom verbringt, läasst sich nicht auf Glatteis führen. Natürlich sei er wie auch der Schriftsteller in der Erzählung "In Estland auf dem Lande" schon einmal in dem baltischen Staat gewesen. Doch die Geschichte von dem Zirkusbären, der seinen Jägern auf einem Damenfahrrad entkommt, habe er auch nur gehört von jemandem, der sie wiederum von seinem Frisör habe. Außerdem sei die Beschreibung eines Schriftstelleralltags nun einmal das, "was mir die Leute am ehesten abkaufen". Der Erzählband "Handy" ist nach dem monumentalen Wenderoman "Neue Leben" erschienen. Schulze betonte, er habe "Melodien mit einem Finger erzählen wollen". Verglichen mit der Roman-Symphonie folgten nun "Lieder". En passant reklamierte Schule dabei für sich die "Rolle des Geschichtenerzählers". Und je länger man diesem höflichen und zurückhaltenden Autor lauschte, desto deutlicher wurde das Vexierspiel, das er betreibt. Nichts an seinen Geschichten ist einfach, gerade weil sie so sehr der Unmittelbarkeit des Erzählens, einer sprachlichen Leichtigkeit und einer Beiläufigkeit verpflichtet sind. Schulze verglich sich mit einem Jazzmusiker, der immer wieder Themen aufnimmt: "Ich bin ständig auf der Suche nach Anregern"; doch die Verweise auf andere Autoren sind letztlich eher Mimikry, die die eigene Meisterschaft verschleiern. Trotzdem hätte Schulze kein schöneres Plädoyer für das Lesen finden können als mit dem Satz "Wenn ich nicht lesen würde, würde ich nicht schreiben."
Das verflixte siebte Jahr war in Köln ein rasanter Erfolg
Ingo Schulzes Lesung war eine der letzten Veranstaltungen der diesjährigen lit.Cologne. Dass es für das Festival kein verflixtes siebtes Jahr wurde, dafür sorgten weit über 60 000 Zuhörer bei den 135 Veranstaltungen, darunter über ein Drittel für Kinder. Wer die Schlangen vor den Veranstaltungsorten sah, dem konnte ums Lesen eigentlich nicht bange sein. Allein 1300 Besucher wollten Jonathan Franzen lauschen. Der Willemsen/Hildebrandt-Abend über die Lüge war so begehrt, dass spontan ein zweiter Termin angesetzt wurde, der ebenfalls sofort ausverkauft war. Und so ging’s weiter. Die Messe hat in den letzten Jahren vom massenkompatiblen Grossevent zu einer gelungenen Mischung aus Attraktivität und Anspruch gefunden.