„Das goldene Ei“: Commissario Brunetti in (fast) privater Mission
Auch im 22. Fall für den Ermittler in Venedig nimmt Autorin Donna Leon die Unzulänglichkeiten Italiens aufs Korn.
Zürich. Brunetti ist mal wieder genervt. Sein Vorgesetzter Patta hat ihn um einen Gefallen gebeten. Die Sorge des Vice-Questore gilt einzig der Wiederwahl des Bürgermeisters von Venedig und damit auch seiner eigenen Position. Doch vielmehr als Pattas selbstsüchtiger und läppischer Auftrag beschäftigt den Commissario ein Vorfall, auf den ihn seine Frau Paola aufmerksam gemacht hat: der Tod eines jungen Mannes in der Nachbarschaft — angeblich ein Unfall.
In Donna Leons neuem Roman „Das goldene Ei“ untersucht Brunetti ganz privat das seltsame Ende und die Vergangenheit des Toten und stößt dabei auf eine menschliche Tragödie.
Der junge Mann, den niemand wirklich kannte und der nie gesprochen hat, arbeitete jahrelang als Hilfskraft in einer Reinigung, bei der die Brunettis Kunden sind. Er galt als taub und geistig minderbemittelt. Wohl deshalb — so die ersten Vermutungen — hatte er die bunten Schlaftabletten seiner Mutter mit Bonbons verwechselt und sie alle vernascht. Später war er dann an seinem Erbrochenen erstickt.
Ein schrecklicher Schlusspunkt hinter einem traurigen Leben, der vor allem Paola nicht zur Ruhe kommen lässt. Sie will mehr über den Jungen wissen und rennt bei ihrem Mann offene Türen ein, denn auch den Commissario beschäftigt nun das freudlose Schicksal jenes Menschen, der scheinbar keine Identität hatte: Davide Cavanella hat offiziell nie existiert.
Bei der Suche nach Antworten kann sich Brunetti wie immer auf seine bewährten Mitstreiter Ispettore Vianello und Signorina Elettra stützen. Als hilfreich erweisen sich zudem Bootsführer Foa, Polizist Pucetti und Brunettis Kollegin Claudia Griffoni. Letztendlich kommt Brunetti sogar Pattas lästige Bitte entgegen: Immerhin liefert sie ihm ein Alibi für seine laufende Abwesenheit. In klassischer Ermittlermanier fügt er Teilchen für Teilchen zu einem Ganzen zusammen, das sich am Ende als ungeheuerlich, aber leider auch denkbar offenbart.
Seit 22 Jahren ermittelt Guido Brunetti in Venedig, doch wirklich älter geworden ist er dabei nicht. Nun aber — weil ihn das schwer nachvollziehbare Dasein Davides in existenzielle Grübeleien stürzt — entdeckt er an sich, seiner Familie und seinem Umfeld sichtbare Lebensspuren und Hinweise darauf, wie sich innere und äußere Einflüsse auf Persönlichkeitsstruktur und Charakter auswirken.
Donna Leon wirft in ihrem neuen Buch mehr noch als sonst eigene Lebenserfahrung in die Waagschale und philosophische Fragen auf. Dass dabei der gesamte redegewandte Brunetti-Clan eine wichtige Rolle spielt, liegt auf der Hand — im strengen Kontrast zu dem sprachlosen Davide, seiner sprachunwilligen Mutter und den schweigenden Nachbarn.
Die 71-jährige amerikanische Autorin, die einst englische Literatur studierte und von der britischen „Times“ zu den 50 größten Krimiautoren der Welt gezählt wird, hat der Sprache in diesem Roman eine Sonderstellung eingeräumt — ist es doch vor allem jenes Mittel, durch das sich ein Mensch und sein Bewusstsein definieren lassen.
Leon macht es vor, nicht nur durch ihre Protagonisten, sondern auch durch das, was sie zwischen den Zeilen sagt. Deutlicher als sonst nimmt sie die italienische Politik mit all ihren Unzulänglichkeiten aufs Korn, freundlich, aber konsequent. Kritik ist für sie eine Möglichkeit, ihre Zuneigung zu dem Land auszudrücken, das sie zur Wahlheimat erkoren hat.
Dieser Brunetti unterscheidet sich von seinen Vorgängern aber auch aus einem anderen Grund: Dieses Mal geht es um ein Verbrechen der besonderen Art, das von Brunetti aufgeklärt wird — und das (fast) privat. Es ist eine bemerkenswerte Geschichte.