Der feine Unterschied von Knacks und Trauma
Roger Willemsen beschäftigt sich in seinem Essay mit den Brüchen im Leben.
Düsseldorf. Er schrieb über den Selbstmord, suchte in seinen mehr als 2000 Interviews nach den Bruchstellen im Leben seiner Gesprächspartner und konzipierte ein erfolgreiches Bühnenprogramm über das Scheitern. In seinem neuen Buch forscht Roger Willemsen nun über den "Knacks". Fasziniert von einem Weltbild des Unglücks, führt er seine Lebensthemen hier zusammen und versucht, sie in diesem literarischen Essay durch den Knacks zu kategorisieren.
Dabei definiert er den Knacks vor allem in Abgrenzung zum Trauma und Schock als unaufhaltsame Arbeit der Zeit. Nicht mit der Wucht eines singulären Ereignisses, das wiederhol- und heilbar ist, bricht das Unglück demnach über den Menschen herein - der Knacks breitet sich langsam von innen aus.
Bei seinen Betrachtungen geht Willemsen von den persönlichen Erfahrungen aus. So stellt er den frühen Tod seines Vaters voran und markiert daran den feinen Unterschied von Knacks und Trauma. An dem Tag, als der Vater im Krankenhaus mit dem Tod rang, fand der damals 15-jährige Willemsen im Garten ein verirrtes Huhn, das hilflos im Gras flatterte und nicht über den Zaun kam. Eng an sich gedrückt brachte er das Tier zu seinem Besitzer. Er spürte das warme Lebewesen zwischen seinen Händen und trug die Seele heim. Zu Hause angekommen, sagte seine Mutter: "Der Vater ist tot." Diese Verquickung von Leben und Tod war es, die seinen Knacks begründete.
Doch Willemsen schafft einen Mehrwert zu diesen individuellen Erlebnissen. Nicht nur, indem er das Persönliche zum Allgemeinen erhöht und den Knacks in der Gesellschaft wie auch in der Landschaft diagnostiziert. Der promovierte Germanist zieht zahlreiche Literaten und Philosophen heran, um seine Theorie zu manifestieren. Das setzt beim Leser zwar eine entsprechende Bildung voraus, ist dann jedoch ein spannendes gedankliches Experiment, das er mit exzellenten und anrührenden Alltagsbeobachtungen versüßt.
In ihrer archetypischen Wahrheit bestürzen diese den Leser immer wieder. So wie die Liebenden, die sich das erste Mal vorm Einschlafen voneinander wegdrehen - der Anfang vom Ende, der Knacks, der erste Riss in der Beziehung. Ein Rezensent der "Süddeutschen Zeitung" warf dem Autor vor, sich in dieser leidenden Haltung zu ergötzen, ohne nach Gründen zu fragen oder eine Schlussfolgerung zu ziehen. Doch Willemsen will weder Ursachenforschung betreiben, noch Ratgeberliteratur liefern.
"Der Knacks" ist vielmehr eine Bestandsaufnahme, eine scharf beobachtete Analyse einer vom Leben enttäuschten Gesellschaft. Ein kleines, wenngleich bitteres Fazit: Erfreue Dich an den Dingen des Lebens, so lange es geht. Sicher keine leichte Lektüre, aber düster-melancholische Gedanken passen schließlich auch in die Jahreszeit.