Literaturnobelpreisträger Der Trommler fehlt: Günter Grass wäre 90 geworden

Lübeck (dpa) - Wegen seiner politischen Einmischungen ist Günter Grass, der am 16. Oktober 90 geworden wäre, oft geschmäht worden. Doch der laue Bundestagswahlkampf, das Verhalten von US-Präsident Donald Trump oder des nordkoreanischen Machthabers Kim Jong Un lassen die oft bissigen Kommentare des 2015 gestorbenen Nobelpreisträgers vermissen.

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In der deutschen Intellektuellen-Szene jedenfalls hat bisher niemand den Platz des Trommlers ausgefüllt, es dominiert eher der Klang der Stille. „Es gab so wenig Humorvolles, Niveauvolles“, sagt der frühere Grass-Lektor und langjährige Freund, der Lübecker Literaturwissenschaftler Prof. Dieter Stolz, über den Wahlkampf. Es fehle jemand, „der auch mal Tacheles redet“.

Verleger Gerhard Steidl, der lange mit Grass dessen Bücher gestaltete, sieht es ähnlich: „Ich kann hier nur spekulieren, aber die Tatsache, dass eine rechtspopulistische Partei in den Bundestag einzieht, hätte ihn empört, aber vielleicht auch nicht überrascht. Er hat oft genug gesagt, dass eine Politik, die 'alternativlos' daherkommt, Populisten den Boden bereitet. Und er hat immer gesagt, dass die Demokratie etwas ist, um das gekämpft werden muss. Er hätte sich wohl über das Schweigen vieler Intellektueller gewundert und sich vernehmlich eingemischt, da bin ich mir sicher.“

Für Literaturfreunde spannender als vermisste politische Aperçus dürfte die Arbeit am literarischen Nachlass sein, der noch nicht vollständig ausgewertet ist. Laut Stolz gibt es „noch unendlich viel zu entdecken“ - etwa unveröffentlichte Gedichte und Prosa aus den frühen 1950er Jahren. „Allerdings gibt es, soweit ich weiß, keinen Roman, der in den Archiven schlummert.“ Bei Siegfried Lenz (1926-2014) hatte sich als Riesenüberraschung im Nachlass der fertige, aber unveröffentlichte Roman „Der Überläufer“ gefunden, der 2016 posthum erschien und zum Bestseller wurde.

Den Überblick über den Grass-Nachlass zu behalten, ist nicht ganz einfach. In der Berliner Akademie der Künste, deren Präsident Grass war, liegen die Manuskripte bis 1995 und sämtliche Korrespondenzen. Das Lübecker Günter Grass Haus, eine Ausstellungs- und Forschungseinrichtung, verfügt über einige danach entstandene Manuskripte. Die in dem Patrizierhaus ebenfalls angesiedelte Günter und Ute Grass Stiftung ist Eigentümerin der meisten seit 1995 entstandenen Werke, darunter die Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ (2006) und Grass' letztes Buch „Vonne Endlichkait“ (2015), an dem er praktisch bis zu seinem Tod gearbeitet hatte.

In Bremen lagert der audiovisuelle Nachlass, Grass war ein begnadeter Vorleser. Und im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg (Bayern) ist der legendäre Grass-Koffer mit frühen „Blechtrommel“-Kapitelversionen zu sehen. Entgegen Grass' Behauptung, alle Vorarbeiten zur „Blechtrommel“ vernichtet zu haben, hatte der englische Germanist John Reddick 1970 den Koffer in Grass' Pariser Arbeitszimmer einem feuchten Heizungsraum, gefunden. Grass hatte ihn offenbar vergessen. Und das Steidl Archiv in Göttingen ist noch nicht in eine Kartei überführt. „Da liegen riesige Container im Keller des Archivs, die noch gesichtet und geordnet werden müssen“, sagt Stolz.

Ein heikles Thema bleiben die Grass-Tagebücher. Laut Steidl hat der Schriftsteller eigentlich immer Tagebuch geführt. Doch die Tagebücher bleiben gesperrt, so will es die Günter und Ute Grass Stiftung.

Warum? „Ich habe die Tagebücher nicht gelesen“, sagt Stolz, der Mitglied des Stiftungsvorstands ist. „Die Befürchtung ist wahrscheinlich, dass da Dinge drin stehen, die in der Öffentlichkeit nichts zu suchen haben.“ Grass hat nur das Tagebuch „Unterwegs von Deutschland nach Deutschland“ von 1990 veröffentlicht. „Wenn er andere Pläne gehabt hätte, hätte er es uns kundtun sollen, was er nicht getan hat - wer weiß, wann die einmal das Licht der Welt erblicken“, sagte Stolz. Der Stiftungsvorstand habe entschieden, dass das gesperrt bleibe, „bis es eine lohnenswerte Ausnahme gibt“.

Eine neue 24-bändige Gesamtausgabe der Grass-Werke wird von 2018 an erscheinen. Sie löst die 12-bändige „Göttinger Ausgabe“ von 2007 ab. Und 16 Kommentarbände sind geplant, jeweils zu den literarischen Werken. „Wir arbeiten mit Hochdruck daran“, sagte Stolz. Es werde „sozusagen eine Werkausgabe letzte Hand“, auch wenn Grass nicht mehr letzte Hand anlegen konnte. „Das soll die Referenzausgabe aller Grass-Werke werden.“ Ausgenommen sind der Werkstattbericht „Sechs Jahrzehnte“, Grass' Briefe und die Tagebücher. Es handle sich um eine aktualisierte und erweiterte „Göttinger Ausgabe“ in Einzelbänden.

Die Kommentare werden als Extrabände angeboten, sie sind nicht Teil der Werkausgabe. Anders als bei der „Göttinger Ausgabe“ soll es nicht Bände mit mehreren Werken geben. „Wenn ich „Hundejahre“ kaufen will, muss ich „Katz und Maus“ nicht mehr gleich mitkaufen in einem Band“, sagt Stolz. Die Ausgabe selbst sei ganz puritanisch: „Da gibt’s nur ein Impressum, eine editorische Notiz und den Text - man würde viele Leute abschrecken mit Anmerkungsapparaten in den Büchern.“

Lässt das Interesse am Werk von Grass, der wie kaum ein anderer Schriftsteller im öffentlichen Rampenlicht stand, bereits wenige Jahre nach seinem Tod nach? „Grass ist ganz sicher nicht in Vergessenheit geraten“, sagt Steidl. „Es wird unsere Aufgabe als Verlag sein, ihn in Erinnerung zu halten und ihm neue Leserschichten zu erschließen.“ Grass selber sagte im Jahr 2000 in einer Rede: „Indem man sich an uns erinnern wird, werden wir überleben. Das Vergessen jedoch besiegelt den Tod.“