Ein Dichter kämpft ums nackte Überleben

Der aus China geflüchtete Schriftsteller Liao Yiwu schildert seine vier Jahre im Gefängnis.

Frankfurt/Peking. Acht Stunden vor den Schüssen am 4. Juni 1989 in Peking schrieb Liao Yiwu in einer düsteren Vorahnung das Gedicht „Massaker“. „Die Macht wird siegen, sie ist ewig“, heißt es darin. „Unsere Herzen sind schwarz. Schwarz und voll Glut. Wie Krematoriumsöfen. Hier brennen die Träume der Toten.“

Am Tag nach der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz nahm der Schriftsteller seine Verse auf vier Tonkassetten auf, rasch verbreitete sich sein leidenschaftliches Gedicht im Untergrund. Er saß dafür von 1990 bis 1994 in Haft.

In seinem Buch „Für ein Lied und hundert Lieder“ beschreibt Liao Yiwu mit schockierender Präzision seine Jahre im Gefängnis. Heute erscheint sein „Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen“ in einer Weltpremiere im S. Fischer-Verlag.

Es ist keine leichte Lektüre, aber eine notwendige. Schwere Misshandlungen durch Wärter, Schläge mit Elektroknüppeln, schlimmste Brutalität unter Häftlingen — das blanke Grauen. Liao Yiwus Sprache, der in Deutschland durch „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ bekannt wurde, ist stark, bildhaft und saugt den Leser in das Buch hinein.

Chinas Behörden wissen nur zu gut, warum sie dieses Buch unbedingt verhindern wollten. Es beschreibt ein System der Brutalität, Willkür und Misshandlung im chinesischen Gulag — durch Wärter wie Mitgefangene, die wie wilde Tiere in überfüllten Zellen hausen. „Dass im Untersuchungsgefängnis jemand tot gemacht wird, das war so alltäglich wie Reis zum Essen.“

Es war ein Kampf ums nackte Überleben, ein politischer Häftling unter Räubern, Vergewaltigern, Mördern. „Die Regierung versucht die Politischen in solchen Räuberhöhlen umzuerziehen“, schreibt Liao Yiwu. „Mein Leben war wertlos wie das einer Ameise, aber ich war nicht gewillt, eine Ameise abzugeben.“

Das Leben hinter Gittern zu dokumentieren, ist für den Literaten eine befreiende Therapie, doch plagen ihn Selbstzweifel. „Schreiben ist ein extrem langsamer Entgiftungsprozess, aber worin liegt seine Wahrheit?“, fragt er sich. „Manchmal bilde ich mir etwas darauf ein, der Verwalter der Freiheit zu sein, aber werde ich nicht von inneren Wahrheiten zum Narren gehalten?“ Existiere Wahrheit überhaupt?

Das Schreiben habe ihm immerhin seine Würde wiedergeben können, die ihm in Haft so oft abhanden gekommen war.