Gerettete Kafka-Briefe in Marbach

Marbach (dpa) - Das war knapp. Um ein Haar wären 111 Briefe und Postkarten von Franz Kafka (1883-1924) an seine Lieblingsschwester Ottilie („Ottla“) öffentlich versteigert worden. Der vielleicht wichtigste Teil des Nachlasses drohte zerstreut zu werden und in der Versenkung zu verschwinden.

Dass es nicht dazu kam, ist dem Deutschen Literaturarchiv und der Bodleian Library Oxford zu verdanken. Beide unterhalten umfangreiche Kafka-Sammlungen und holten das Konvolut zu einem nicht genannten Preis vom Markt. Ein Punkt der Kooperationsvereinbarung: Die baldige Ausstellung der Autographen - von Donnerstag an auf der Schillerhöhe in Marbach, später in Oxford.

Für Franz Kafka („Der Prozess“, „Die Verwandlung“) war eine Postkarte stets etwas Besonderes: Er wählte die Motive ganz bewusst aus, wie es in Marbach heißt, verband häufig Bild und Text, Zeichnung und Kommentar. „Kafka spielt immer wieder mit der sehr begrenzten, aber öffentlichen Form der Postkarten“, berichtete Direktor Ulrich Raulff. Nicht selten stehe der Text auf zwei Karten, oder es seien die Textfelder auch mal ringsum vollgeschrieben, so dass man die Karten wenden und auf den Kopf stellen, drehen und aufs Gesicht legen muss. In den Briefen ist Kafka intimer, was er auch kommentierte: „Den Brief mußt Du weder zeigen, noch herumliegen lassen. Am besten Du zerreißt ihn und streust ihn in kleinen Stücken ... den Hühnern im Hof, vor denen ich keine Geheimnisse habe.“

Franz Kafka und seine neun Jahre jüngere Lieblingsschwester Ottla verband stets eine besondere Beziehung. Ihre Korrespondenz gilt als besonders wertvoll, weil sie tiefe Einblicke in das Seelenleben des oft düster gestimmten Prager Autors gewähren soll. Im Laufe des Briefwechsels werde Ottla von der kleinen Schwester zur engsten Vertrauten, Ratgeberin und Freundin, berichtete Heike Gfrereis, Leiterin des Literaturmuseums der Moderne, in dem die literaturhistorisch bedeutende Ausstellung „Briefe an Ottla. Von Franz Kafka und anderen“ bis zum 10. September präsentiert wird. Zum Ausgangsgebot von 500 000 Euro hatten die 111 Handschriften im April unter den Hammer kommen sollen.

Neben dem Konvolut werden in Marbach mehrere Briefe von Mutter Julie Kafka an ihre Kinder ausgestellt. Sie bekräftigen, so Gfrereis, dass etwa das von Franz Kafka selbst überlieferte Bild des lieblosen Vaters und der fernen, unerreichbaren Eltern korrigiert werden muss: „Sie sind sehr liebevoll und sorgen sich um ihre Kinder, die Mutter schickt immer wieder Lebensmittel und Kleidungsstücke und zelebriert die Briefe ihrer Kinder als regelrechtes Familienfest.“ Auch aus dem humorvollen Ton der Mutter lasse sich einiges über den Umgang der Eltern mit ihren Kindern lesen: „Sende Euch heute dringend ein Paquet mit Gebäck, Obst und Zeitungen. Lasst Euch außer der Zeitung alles gut schmecken.“

Ottilie Davidová wurde 1943 in Auschwitz ermordet. Ihr Bruder Franz Kafka war 1924 mit 40 Jahren an den Folgen einer Lungentuberkulose gestorben.