Hunger war Alltag im Arbeitslager
Herta Müller hat mit „Atemschaukel“ Oskar Pastior gehuldigt.
Düsseldorf. Die aus Rumänien stammende Schriftstellerin Herta Müller gehört zu den Großen der deutschen Gegenwartsliteratur, und ihr neues Buch ist vielleicht ihr bestes: In "Atemschaukel" gelingt ihr eine beklemmende Gratwanderung zwischen leuchtender Poesie und nüchterner Beschreibung des Schreckens. Der Roman führt die Leser in den Alltag eines sowjetischen Arbeitslagers; er erzählt aus der Perspektive des jungen Leopold Auberg von fünf Jahren Zwangsarbeit und Hungerqualen.
Auch Herta Müllers Mutter war fünf Jahre in einem Lager gewesen, sie gehörte zu den 75000 Deportierten, aber darüber schwieg man im Rumänien der Nachkriegszeit, wo sich die deutsche Minderheit immer noch dem Vorwurf des Nazimitläufertums ausgesetzt sah. Erst vor einigen Jahren erwog die Autorin, die 1987 vor den Schikanen des rumänischen Geheimdienstes Securitate nach Deutschland floh, über das Thema zu schreiben. Sie führte lange Gespräche mit Betroffenen, vor allem mit dem Dichter Oskar Pastior, der als 17-jähriger in ein Arbeitslager in der Ukraine verschleppt wurde.
In allen Einzelheiten und beinah systematisch in kurzen Kapiteln aufgelistet, beschreibt Leopold Auberg seinen Alltag als Zwangsarbeiter: die Holzschuhe, in denen man nur schlurfen kann, der wattierte Anzug, der so lange warm hält, als er sich nicht mit Feuchtigkeit voll saugt. Das Kopfkissen, dessen Bezug die Lagerinsassen immer bei sich tragen, falls es etwas Essbares aufzuklauben gilt.
Die Läuse und Wanzen. Essbare Pflanzen, die im Sommer den Hunger erleichtern, die verschiedenen Arten des Kohlestaubs. Die Zwangsarbeiter sind Rumäniendeutsche; sie wurden im Januar 1945 abgeholt für den "Wiederaufbau" der Sowjetunion. Männer und Frauen zwischen 17 und 45 Jahren. In einem maroden Kokswerk wurden sie eingesetzt für Schwer- und Schwerstarbeiten bei 800 Gramm Brot am Tag und zwei Teller dünner Krautsuppe.
Der Hunger ist das Schlimmste, ein Dämon, der die Menschen zu verrohten Tieren werden lässt, die noch ihrem Nächsten das Brot unter dem Kopfkissen wegstehlen. "Hungerengel" heißt der Dämon bei Herta Müller, und "Atemschaukel" bezeichnet die Herzbeschwerden, die sich durch die Strapazen in Kälte und glühender Sonne einstellen.
Leopold Auberg hält sich an Wörtern fest, mit ihnen versichert er sich seiner Existenz, dank ihnen überlebt er. Die Bücher in seinem Köfferchen hat er längst als Zigarettenpapier verscherbelt und gegen Essbares eingetauscht. Aber in seinem Kopf dichtet er das Lagerleben um, behauptet trotzig: "Jede Schicht ist ein Kunstwerk" oder freut sich an der handlichen "Herzschaufel", die ihn im Rhythmus mit seiner "Atemschaukel" durch den Tag leitet.
Herta Müller liest am 25. August im Düsseldorfer Heine-Haus, Bolkerstraße 53, Beginn: 19.30 Uhr, Moderation: Martin Krumbholz "Atemschaukel" ist im Carl Hanser Verlag, München, erschienen, 300 S., 19,90 Euro