Interview mit Bestseller-Autorin Kathrin Passig: Zeit für neue Besserwisser
Kathrin Passig, Bestseller-Autorin und Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin, führt gerne Interviews per Chat. Wir trafen sie im Netz, wo sie nahezu ihre gesamte wache Zeit verbringt.
<strong>Frau Passig, wieso wollten Sie dieses Gespräch gerne auf digitalem Wege führen?Kathrin Passig: Meine Erfahrung ist, dass bei Live-Interviews, auch wenn viele Journalisten sagen, das Flair sei so wichtig, im Schnitt langweiligere Ergebnisse herauskommen als in der Schriftform. Haben Sie schon viele Interviews per Chat gegeben?Passig: Ach, es lässt sich ja fast niemand zur Schriftform überreden. Ich weiß auch nicht, woran das liegt. Ich habe allerdings so einen Verdacht, dass es was mit den Reisespesen der Redaktionen zu tun haben könnte . . . Wie viel Zeit verbringen Sie täglich im Netz?Passig: Eigentlich so ziemlich meine gesamte wache Zeit. Wenn Sie so viel Zeit online verbringen, ruft da nicht manchmal die imaginäre Mutter im Hinterkopf: Kind, geh doch mal raus!Passig: Gut, dass Sie mich daran mal erinnern. Das ist eigentlich das Allerbeste am Erwachsensein: Dass die Mutter nie mehr "Kind, geh doch mal raus!" ruft. Eigentlich verbringe ich den ganzen Tag damit, mich darüber zu freuen. Sie stammen aus Deggendorf im Bayerischen Wald und sind mit 21 nach Berlin gekommen. War das eine Flucht aus der Provinz?Passig: Ich habe mal in einem englischsprachigen Deutschland-Reiseführer über Deggendorf sinngemäß folgenden Satz gefunden: "Deggendorf an sich lohnt keine Übernachtung." Und ich bin dort 18 Jahre lang über Nacht geblieben. Sind Sie noch oft in Ihrer Geburtsstadt?Passig: Ja, erstens ist es dort ganz schön, und zweitens gibt es inzwischen sogar in Deggendorf so was Ähnliches wie Internet.
"Ich wäre gern ein Stadtkind gewesen; ich war immer neidisch, wenn in Kinderbüchern in Städten gewohnt wurde."
Wie empfanden Sie Ihre Kindheit in der Kleinstadt rückblickend?Passig: Ich wäre gern ein Stadtkind gewesen; ich war immer neidisch, wenn in meinen Kinderbüchern in Städten gewohnt wurde. Mir war die ganze Rausgeherei egal. Das ist heute zwar anders, aber die Stadt ist eine unglaublich praktische Umgebung. Irgendein kluger Mensch hat mal gesagt, Vororte sind der Hauptgrund für Drogenabhängigkeit bei Jugendlichen, weil es da draußen so öde ist. Aber musste es gleich Berlin sein?Passig: Nein, ich wollte eigentlich gar nicht nach Berlin. Aber es hat sich so ergeben. Ich hatte zwei Jahre Germanistik in Regensburg hinter mir, da fangen die Vorlesungen an, sich zu wiederholen. Ich wollte dorthin, wo es ein dickeres Vorlesungsverzeichnis gibt. Sie schreiben regelmäßig für den Blog "Riesenmaschine", hinter dem die Zentrale Intelligenz Agentur (ZIA), ein Zusammenschluss verschiedenster Autoren, steckt. Haben Sie sich schon in Deggendorf für moderne Kommunikationstechnik interessiert, oder kam das erst später in Berlin?Passig: Ich hatte meinen ersten Computer ungefähr mit 16, es waren finstere Zeiten damals, er hatte nicht mal eine Festplatte. Die hatte dann erst der zweite, 20 MB passten da drauf. Ich glaube, 20 MB haben heute sprechende Geburtstagskarten. Und Ihre erste E-Mail-Adresse, wann haben Sie sich die zugelegt?Passig: Als es an der FU Berlin Mailadressen für Studenten gab, das war so Ende 1994, glaube ich. Waren Sie von vornherein begeistert von dieser Art der Kommunikation?Passig: Ich muss leider sagen, dass ich da in vielerlei Hinsicht ziemlich auf der Leitung gestanden habe. Mit 15 war ich in einem Programmierkurs, wusste aber gar nicht, was ich damit anfangen sollte. Als das WWW in seiner heutigen Form entstand, habe ich mir das bei einem Freund angesehen. Damals dachte ich: "Wird auch wieder so was sein wie BTX." Gibt es Dinge in der digitalen Technik, von denen keiner weiß, wie sie funktionieren, sondern einfach jeder nur, dass sie funktionieren?Passig: Für mich persönlich sind das so ungefähr alle Dinge. Keine Ahnung, warum das alles funktioniert. Dafür wissen Sie ziemlich genau, was wir eigentlich nicht wissen. Zusammengestellt haben Sie das mit Ihrem Kollegen Aleks Scholz im "Lexikon des Unwissens". Woher kam die Begeisterung für Dinge, die zwar erforscht, aber trotzdem rätselhaft sind?Passig: Woher kommt Begeisterung? Das ist eigentlich die interessante Frage, und meines Wissens ist sie nicht sehr gut erforscht. Aber Sie wissen, wann sich die Begeisterung bei Ihnen einstellt?Passig: Begeisterung für ein Thema ist ein bisschen wie Verliebtheit, sie ist rational oft schlecht begründbar. Ich habe erst mit Mitte 20 begriffen, dass die Welt gar nicht so restlos verstanden ist, wie ich dachte. Und sie hätte mir besser gefallen, wenn ich das früher gewusst hätte; das ist ein bisschen der Ursprung des Unwissensbuchs. Es ist ein Buch, das ich gern selbst mit 14 gelesen hätte."Ich finde Unwissen überhaupt nicht beängstigend, sondern beruhigend. Es ist auch gut fürs Ego!"
Sie haben vor Kurzem gesagt, dass Wissen und Halbwissen besserwisserisch machen. Aber die Hauptleserschaft des Lexikons sind doch sicher auch potenzielle Besserwisser.Passig: Das ist leider nicht ganz falsch, das Lexikon macht einen nur zu einer neuen Art Besserwisser. Trotzdem, mit wem würden Sie lieber auf einer Party in der Küche stehen, mit einem Halbwisser, einem Besserwisser oder einem Bessernichtwisser? Viele Unwissensthemen konnten Sie nicht in Ihrem Lexikon unterbringen. Woran lag es?Passig: Manche Themen wie "Was ist Zeit?" oder "Wie funktioniert Bewusstsein?" sind extrem spannend, aber man fasst sie als Autor nur mit der Kneifzange an. Viele andere Themen wären auch noch interessant gewesen, aber das Buch war leider voll. Halb hoffe und halb fürchte ich, dass es einen zweiten Band gibt, in den das dann alles reinkommt. Hat es Sie beängstigt, nicht zu wissen, warum man gähnen muss, obwohl man es täglich mehrmals macht?Passig: Ich finde Unwissen überhaupt nicht beängstigend, sondern beruhigend. Es ist auch gut fürs Ego, denn man kann herumlaufen und sich denken: Sieh her, Natur! Ich habe keine Ahnung von fast allen Dingen auf der Welt, aber die Überlegenheit meiner Art ermöglicht es mir, warme trockene Socken zu tragen! Und das Internet haben wir auch erfunden! Kennen Sie Aleks Scholz persönlich, oder ist er eine Internetbekanntschaft?Passig: Beides, das schließt sich ja zum Glück nicht aus. Wir kennen uns aus dem Internetforum hoeflichepaparazzi.de. Gibt es Internetbekanntschaften, die Sie bislang nicht persönlich getroffen haben, aber trotzdem als Freund bezeichnen würden?Passig: Ich würde das theoretisch nicht ausschließen, in der Praxis scheint mir aber, dass mit Leuten, die man lange aus dem Internet kennt, die aber nie irgendwo auftauchen, meistens was nicht stimmt. In welchen Situationen, in denen die digitale Kommunikation die verbale ersetzen könnte, ziehen Sie das Gespräch vor?Passig: Eigentlich unterhalte ich mich selbst mit Menschen, die neben mir sitzen, per Chat. Auf die Art können sie erst das zu Ende machen, was sie gerade tun, und dann antworten. Das klingt alles so rational, wann wird Ihr Leben sinnlich?Passig: Vielleicht ist es ein unsinnliches Leben, aber ich fühle mich ganz wohl damit. Es sind halt nicht alle Menschen mit demselben Keksförmchen ausgestochen. Kathrin PassigZunächst Geboren wurde Kathrin Passig 1970 in Deggendorf, dem Tor zum Bayerischen Wald. Nach zwei Jahren Studium in Regensburg wechselt sie nach Berlin.
Dann Mit Ira Strübel veröffentlicht sie ab 2000 Kolumnen in der "taz", mit Holm Friebe in der "Berliner Zeitung".
Die Idee Vieles, was man für erforscht hält, ist es in Wahrheit nicht, beispielsweise warum man gähnt. Die Gelehrten streiten sich oder haben, wie im Falle der Anästhesie, noch nicht mal einen einigermaßen zufrieden stellenden Erklärungsansatz. Kathrin Passig und Aleks Scholz haben sich 42 offene Sachverhalte vorgenommen und deren aktuellen Kenntnisstand mit der wohltuenden Süffisanz der eigenen Unzulänglichkeit aufgearbeitet.
Termin Am 13. Oktober stellen Passig und Scholz ihre "Unwissens-Show" um 19.30 Uhr im Düsseldorfer Zakk, Fichtenstraße 40, vor.