Martin Walser: „Verzweiflung schmieden“
Der zweite Band der Tagebücher umfasst die auch politisch hitzigen Jahre 1963 bis 1973.
Düsseldorf. "Telegramm an Heine. kommen nicht ratsam stop / bleibe wo du bist stop / du bist noch zu früh dran stop / Demokratie wird noch immer gestoppt." Hiermit kommentierte der Schriftsteller Martin Walser im Jahr 1972 ironisch-sarkastisch die haarsträubenden Streitereien um die Benennung der Düsseldorfer Universität nach dem Sohn der Stadt. Schließlich war der seinerzeit polizeilich gesucht (außerdem ein Jude), immer verchuldet und bekannt für kommunistische Umtriebe wie eine äußerst lästerliche Feder.
Im Nachwort erläutert Walser seinen Begriff von Tagebuch, den er teilt mit seinen Vorbildern Sören Kierkegaard und Franz Kafka, nicht aber mit Thomas Mann, der bekanntlich seine Tage buchhalterisch penetrant protokollierte bis hin zur Verdauung. Er, Walser hingegen, adressiere seine Tagebücher "kein bisschen an jetzige oder zukünftige Leser". Vielmehr werde er durch die Sprache "sich zur Figur", er komme sich ganz nah. Dennoch: "Nichts ist dem Tagebuch, der Sprache des Tagebuchs, weniger angemessen als das Private."
Drei Pole kennzeichnen Walsers Leben und Wirken: das literarische Schaffen, die politischen Ereignisse (Auschwitz-Prozess, Reise in die Sowjetunion, Auseinandersetzung um Willy Brandt, Bruch mit der SPD, die Schriftsteller-Gewerkschaft) und die wachsende Familie. 1968 hat der rastlose Immobiliensucher Walser ein Anwesen in Nußdorf gefunden, die "Villa Zimmerschlacht", finanziert mit den Tantiemen aus Walsers gleichnamigem Theaterstück.
Mögen auch Anselm Kristlein und Gottlieb Zürn hier in großen Teilen entwickelt und herbeiphantasiert werden und trotz der Beteuerungen im Nachwort: Privates fließt naturgemäß dennoch ein. Der elende Tod der Mutter, die Jahrzehnte klaglos die Gastwirtschaft betrieben und gekocht hat ("tausend Jahre Frömmigkeit!"), erschüttert ihn in den Grundfesten seiner Existenz und weckt Selbstanklagen.
Ausbeuterisches Arbeiten droht seine Gesundheit zu ruinieren, Schuldgefühle gegenüber den Kindern schütteln ihn und seine familiäre Verantwortung. Verrisse mancher Kritiker verletzen, empören ihn. Sarkasmus glüht: "Man muss die Verzweiflung schmieden, solange sie heiß ist. Also immer. Also bei Lebzeiten."
Man staunt über Walsers Frömmigkeit. Er lässt das Jahr mit einem Psalm beginnen und enden, häufig sinniert er über Gott, der von uns "von Sekunde zu Sekunde erzeugt wird durch unsere Not". Welch existenziellen Rang da längst sein literarisches Schaffen besitzt, dokumentiert 1972 die Notiz: "Der Schmerz ist der Notar, vor dem ich schwören will." Und: "Das Werk ist eine Grube, in die ich mich lege."
Er verehrt nicht die Angekommenen, sondern Gebrechliche und Greise wie Ernst Bloch, wie einst Hölderlin (über den er promoviert wurde), Kafka und Robert Walser. Er attestiert, von ihnen gelernt zu haben, dass und wie zuverlassig "erlittene" Sprache ist. Dies bekunden auch seine wunderschön-sprachzärtliche Handschrift, seine skurril oder clownesk hingehuschten und -getuschten Zeichnungen.