Island besinnt sich wieder aufs Lesen
Reykjavík (dpa) - Wer in Island stirbt, dem wird von Freunden oder Verwandten in öffentlichen Nachrufen gehuldigt. „Wenn über jemanden nichts geschrieben wird, dann hat er praktisch umsonst gelebt“, sagt der isländische Autor Hallgrímur Helgason („Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein“).
Am besten ist es natürlich, wenn einer zu Lebzeiten selbst schreibt. Was in dem erzählfreudigen Land viele tun: Limerick-Verse gehören zum Nationalsport. Der Schriftstellerverband zählt sogar 400 Mitglieder - in einem Land mit 320 000 Einwohnern. So groß ist auch die Stadt Bonn.
Auch die Leselust der Isländer ist beeindruckend. Jeder kauft im Schnitt acht Bücher im Jahr - das ist weltweit Spitze. Rund 1500 Neuerscheinungen pro Jahr und 40 Verlage sind ebenfalls stolze Zahlen. Und ausgerechnet die Buchbranche hat 2008 vom Kollaps des Finanzsystems profitiert. Es wird in Island noch mehr gelesen, sagt Halldór Gudmundsson, der seit vier Jahren den Auftritt seines Landes auf der Frankfurter Buchmesse mit einem Etat von 2,7 Millionen Euro akribisch vorbereitet. „Die Menschen besinnen sich wieder auf ihre Traditionen.“
Es sind nicht nur die ewig-langen Winternächte, die in der am Polarkreis gelegenen Insel zum Lesen verführen. Es gibt dafür auch historische Gründe. Die Isländer haben im Mittelalter die harte Besiedlung der Vulkaninsel, die zu fast 95 Prozent unbewohnbar ist, in den „Sagas“ auf präparierten Kalbshäuten niedergeschrieben. Seitdem hat die isländische Sprache, die sich seit dem Mittelalter auf dem isolierten Eiland nicht verändert hat, die Kultur des Volkes geprägt. „Wir drücken uns schon immer in Büchern aus“, sagt Gudmundsson, der eine große Biografie über den isländischen Literaturnobelpreisträger Halldór Laxness (1902-1998) verfasst hat.
Die Isländer-Sagas haben zur Identität des Landes, das erst 1944 seine Unabhängigkeit von Dänemark durchsetzte, eine wichtige Rolle gespielt. Kultur wird zugleich ganzheitlich verstanden: Wer schreibt, macht oft auch Musik oder malt. Auch der als „Popliterat“ bekanntgewordene Helgason hat in jungen Jahren mal Kunst in München studiert. In Island, wo viele mehrere Karrieren haben, sind solche Biografien fast die Regel.
Es gibt aber genug Schriftsteller, die ihren Beruf zum Haupterwerb gemacht haben. Dazu gehören Einar Kárason, der in der amerikanischen Erzähltradition seine großen Island-Epen verfasst, oder der Romancier Einar Már Gudmundsson. Er wurde international über die Geschichte eines Geisteskranken („Engel des Universums“) bekannt. Unter den Frauen ragt Steinunn Sigurðardóttir hervor, die sich auf die großen - oft unerwiderten - Gefühle spezialisiert hat. Es gibt auch eine junge experimentelle Lyrikszene wie den originellen Poeten Eiríkur Örn Norðdahl. Am bekanntesten sind aber in Deutschland die Island-Krimis, mit dem Bestseller-Autor Arnaldur Indriðason an der Spitze. Sie beleuchten gerne - ähnlich wie andere Skandinavien-Krimis - die dunklen Seiten des Wohlfahrtsstaates.
Im kleinen Island sind die Schriftsteller mehr als in anderen Ländern noch eine intellektuelle Avantgarde, wie der Zusammenbruch des Finanzsystems im Jahr 2008 bewiesen hat. Nachdem die größenwahnsinnigen „Finanzwikinger“ der drei großen Privatbanken das eigene Land mit tausenden ausländischen Anlegern in die Tiefe gerissen haben, haben Autoren den öffentlichen Protest angeführt. Die Banken sind inzwischen verstaatlicht, die neoliberale Regierung vertrieben. Jetzt regiert eine Allianz aus Sozialdemokraten und links-grüner Bewegung, allerdings unter den Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF).
„Wir haben vielleicht nicht so viel erreicht, aber wir haben gezeigt, dass ein Wandel möglich ist“, sagt Einar Már Gudmundsson, der zu den Wortführern des Protests gehörte. Seine Abrechnung mit den Haien des Finanzsystems ist unter dem Titel „Am Abgrund“ im vergangenen Jahr auch auf Deutsch herausgekommen.
Den Crash hat Island, das in Statistiken vor wenigen Jahren noch als reichstes Land der Land geführt wurde, trotz der wirtschaftlichen Erholung noch nicht überwunden. „Wir haben unsere Unschuld verloren“, stellt Helgason fest. Die Isländer sollten sich wieder auf die Literatur als ihre eigentliche Stärke besinnen, um ihr von den Finanzmaklern angekratztes Image aufzupolieren, forderte Einar Kárason im September ironisch beim Literaturfestival in Reykjavik.
Auf der Buchmesse legt sich Island schwer ins Zeug: Allein etwa 100 Belletristik-Titel und Anthologien erscheinen in deutschen Verlagen. Kein Gastland in den vergangenen Jahren hat es auf mehr Titel gebracht. Dabei will Island auf der weltweit bedeutendsten literarischen Bühne seine ganze Bandbreite präsentieren. Die üblichen Klischees von den Trollen und Elfen sollen vermieden werden. „Wir haben Elfenverbot“, sagt Halldór Gudmundsson.