Julian Barnes über die Falltüren der Erinnerung
Köln (dpa) - Wie wir unser Leben per Erinnerung so zurechtbiegen, dass alles einigermaßen nett aussieht und vor allem wir selbst nie als Bösewicht dastehen: Julian Barnes hat darüber mit „Vom Ende einer Geschichte“ einen klugen und gleichermaßen melancholischen wie bitterbösen Roman geschrieben, der auf relativ wenigen Seiten doch prallvoll ist.
„Wir wursteln so vor uns hin, wir lassen das Leben geschehen, und wir legen uns nach und nach einen Vorrat an Erinnerungen zu“, notiert Barnes' pensionierter Ich-Erzähler Tony Webster. Was aber, wenn sich das diskrete, nur halb oder gar nicht bewusste Beschönigen der eigenen Vergangenheit durch einen unumstößlichen Beweis plötzlich als Lüge erweist?
Für Tony geschieht das in Gestalt eines hundsgemeinen Briefes, den er so etwa vor 35 Jahren seiner Ex-Freundin Veronica und deren neuem Partner Adrian geschrieben, danach aber komplett verdrängt hat. Der intelligente, ehrgeizige Adrian war auch der wichtigste Schulfreund Tonys und hatte diesen höflich per Brief gefragt, ob es in Ordnung sei, dass er nun mit Veronica „gehe“.
Nach Tonys Erinnerung lautete die Antwort per Postkarte, „dass meinerseits alles ok ist, altes Haus“. Aber als alter Herr muss er nun entsetzt lesen, dass er in Wirklichkeit beiden in einem langen, gehässigen Brief die Pest an den Hals gewünscht hat - und seine Verwünschungen erfüllten sich wenige Monate später nicht nur mit dem Selbstmord Adrians auf schreckliche Weise.
Der 65-jährige Autor („Darüber reden“, „Flauberts Papagei“) lässt seinen Ich-Erzähler in der ersten Hälfte die Geschichte der Jugendbeziehungen zu Veronica und Adrian aus seinem Erinnerungs-Katalog ausbreiten. In der zweiten Hälfte muss Tony dann aus dem Abstand von mehreren Jahrzehnten neu zurückblicken, als ihm Adrians Mutter testamentarisch das Tagebuch des früh gestorbenen Freundes überlässt.
Das dazwischen liegende, ganz und gar gewöhnliche Leben der Hauptperson wird auf dreieinhalb Seiten abgehandelt: Job in der Kulturverwaltung, Ehe mit Margaret, Tochter Susie, die zwei Enkel liefert, relativ frühe Scheidung von Margaret nach deren Affäre mit einem anderen, aber weiter Freundschaft. Und jetzt? „Jetzt bin ich im Ruhestand. Ich habe meine Wohnung und alles, was ich brauche.“
Das ist die eine Seite von Tony. Eine andere lässt ihn über diesen mittleren Teil seines Lebens sagen: „Wir hielten uns für reif, dabei gingen wir nur auf Nummer sicher. Wir hielten uns für verantwortungsbewusst, dabei waren wir nur feige. Was wir Realismus nannten, erwies sich nur als eine Manier, den Dingen aus dem Weg zu gehen, statt ihnen ins Auge zu sehen.“
Die Konfrontation mit der Tagebuch-Erbschaft bringt auch eine Wiederbegegnung mit Veronica. Die erste Freundin bringt Tony - auf nicht so sympathische Weise - neue und noch schrecklichere Einsichten zum Selbstmord des Jugendfreundes. Auf eine um Reue bemühte Mail antwortet sie: „Du kapierst immer noch nichts. Hast du ja nie und wirst du auch nie. Also gib's auf.“
Im letzten Teil verwandeln atemberaubende Enthüllungen das sonst so ruhig und dicht erzählte Buch passagenweise in eine Art Psycho-Thriller. Spannend, aber vielleicht ein bisschen heftig auf den Knalleffekt hingetrimmt. Am Ende schreibt Tony über seine Sicht auf die eigene Geschichte: „Ich habe kapiert“, aber man hat Zweifel. An seiner Einsichtsfähigkeit und an der eigenen.
Julian Barnes
Vom Ende einer Geschichte
Verlag Kiepenheuer&Witsch, Köln
192 Seiten, 18,99 Euro
ISBN: 978-3-462-04433-1