Literatur: Keine Lust auf Gran Canaria
In Wilhelm Genazinos neuem Buch will die Hauptfigur sanft und ruhig leben, muss sich aber durch den Alltag kämpfen.
Düsseldorf. Die Ente, die im tosenden Verkehr stundenlang auf einem Bein steht und schläft, fasziniert den Architekten. Es ist der Anblick eines Lebewesens, das im Chaos der Großstadt aus der Spur getreten ist und einfach einer inneren Regung folgt, für die sogenannte höhere Wesen gar keinen Sinn mehr haben.
Der große Erzähler Wilhelm Genazino bringt dem Leser hier wieder einmal einen Eigenbrötler nahe, der fortwährend an der eigenen Identität arbeitet. Sein Architekt ist mit Maria zusammen, obwohl er keine Liebesgeschichte mehr will. Aber er hat Mitleid mit der Frau, die will, dass alles so abläuft wie bei anderen Paaren, und nicht ahnt, dass er „im Inneren ein Finsterling“ ist.
Sein Problem: Er will anders sein, aber das will niemand zur Kenntnis nehmen. Dem Ich-Erzähler geht es um „Lebensersparnis“: Er will nicht den Wohlstandsmüll, nicht in Urlaub nach Gran Canaria, keine überflüssigen Verausgabungen. Er würde am liebsten ruhig auf einem Bein schlafen.
Genazino kann diese seelische Gemengelage köstlich darstellen. Er fährt selber nicht in Urlaub, hat sich von keinem seiner 13 Preise ein tolles Auto gekauft. Der einzige „Souveränitätsgewinn“ des Schriftstellers ist, Distanz herzustellen zur Konsumgesellschaft.
Auch sein Architekt ist in Gefahr: Er findet einen fremden Personalausweis und bestellt bei Versandhäusern Waren, die er sich postlagernd liefern lässt, ohne die Rechnungen zu begleichen. Natürlich fliegt das auf, er kommt ins Gefängnis, der Staatsanwalt will von „Lebensersparnis“ nichts hören.
Leitmotivisch durchzieht den Roman die Beobachtung von Tieren, die von jedem „Reflexionszwang befreit“ sind und nur „zwei oder drei Grundbedürfnisse“ kennen — wie die Wespe in einer halb leer getrunkenen Tasse.
Pointiert und ironisch beschreibt Wilhelm Genazino den alltäglichen Kampf ums Überleben. Da will einer sanft und friedlich wie ein Mönch sein, muss aber Aufträge akquirieren und sich zwischen drei Frauen entscheiden. Will wie ein Tier leben, aber er gehört eben einer anderen Spezies an. Genazino-Romane kennen kein Happy End, es gibt nur die Möglichkeit des Innehaltens. Doch am Ende „alles immer wieder durchlebt werden, das ist das Leben“.
Genazino sagte kürzlich in einem Interview: „Ich sehe das Ende der Fahnenstange schon kommen.“ Er habe seine Figur „durch alle möglichen Welten hindurchgeschickt — die Sache ist jetzt auf die Spitze getrieben. Ich schließe nicht aus, dass ‚Wenn wir Tiere wären’ mein letztes Buch ist.“ Es wäre wirklich schön, wenn sich dieser Schriftsteller mit dem ausgeprägten Gefühl für den Zeitgeist das noch einmal überlegt.