Martin Walser: Der Monomane
Etwa zehn Reihen des Großen Saales im Düsseldorfer Schauspielhaus sind mit andächtigen Zuhörern besetzt. Ein fahles Licht fällt über ihre Köpfe. Der dunkelrote Bühnenvorhang teilt sich für einen Augenblick. Ein weißhaariger Mann tritt zielstrebig an ein Pult und liest ohne erkennbare Zusammenhänge Aufzeichnungen aus seinem Leben vor - aus dem Jahrzehnt zwischen 1960 und 1970.
Düsseldorf. Dann setzt er sich zu einem jüngeren Mann an den Tisch. Sie lachen, feixen, klopfen sich auf die Schulter und schwelgen in Erinnerungen, bis der alte Mann plötzlich aufsteht, mit den Schultern zuckt, den Kopf schüttelt und wieder hinter dem Vorhang verschwindet.
Die Lesung Martin Walsers aus seinen Tagebüchern gleicht mehr einem Theaterstück von Samuel Beckett als einer Buchpräsentation. "Krapps letztes Tonband" hat Pate gestanden. Nur sind es hier nicht die alten Tonbänder, die wieder und wieder abgehört werden, um das erloschene Leben erneut zu entzünden, sondern Sätze seiner "Hingeschriebenheit", wie Walser im Nachwort schreibt, und die der Achtzigjährige nun reanimiert. Die an sich banale, das Alltägliche fast nie verlassende Sprache wird durch die schelmische Überbetonung amüsant, kokett, hintergründig. Er bringt sein Publikum zum Lachen, obwohl es eigentlich nichts zu lachen gibt.
Das Resümee dieses Schriftstellerlebens ist eher traurig, fast zynisch. Walser gesteht sich im Laufe des Abends immer mehr ein, dass ihm die Welt nie etwas bedeutet habe und er ihr nichts. Die wirklich wichtigen Dinge, sagt er heute, wurden von den Kennedys, den Gorbatschows und Brandts auf den Weg gebracht. Sein Engagement für Vietnam oder die deutsche Einheit sei völlig überflüssig und zutiefst dilettantisch gewesen. Er hätte lieber Verse in Reimen schreiben sollen. Für aktuelle Debatten heute hat er nur ein verächtliches Achselzucken. Das ist schon erschütternd.
Auch seine Kollegen gleiten an ihm ab wie lästige Schmeißfliegen. Die Gruppe 47, Uwe Johnson, Ingeborg Bachmann waren für ihn Berufsalltag, nie Quelle der Inspiration. Sein Gesprächspartner, der Literaturkritiker Lothar Schröder, entlockt Walser Äußerungen, die nachdenklich stimmen. Die meisten Projekte, mit denen er sein Geld verdient habe, seien verlogen und unaufrichtig gewesen etwa.
Was aber bleibt? Für Walser keine Frage: nur das eigene Schreiben als Ausdruck einer nicht versiegenden Lebendigkeit. Wenn er alles um sich herum weggebissen hat, bleibt der Genuss seiner selbst, der eigenen Worte, die Treffsicherheit auch frühester Formulierungen, die ihn an Endgültigkeit und Vollkommenheit denken lassen. Er habe kein Gefühl für Zeit. Im Kegel der Scheinwerfer sieht man fast nur sein weißes Haar, die buschigen Augenbrauen, einen endlos formulieren Mund und zwei gestikulierende Hände. So sitzt er da wie eine lebende Schreib- und Redemaschine, die anders als bei Beckett immer nur wiederholen mag: Ich Ich Ich