Schriftsteller Siegfried Lenz gestorben
Hamburg (dpa) - Siegfried Lenz, einer der großen Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur, ist tot. Er starb am Dienstag im Alter von 88 Jahren im Kreise der Familie, wie der Verlag Hoffmann und Campe mitteilte.
Lenz' wichtigstes Werk ist der in viele Sprachen übersetzte und verfilmte Roman „Deutschstunde“ (1968) über die Nazizeit und einen falsch verstandenen Pflichtbegriff. Der Ostpreuße galt aber vor allem als ein Meister der Erzählung. Dafür stehen humorvolle Bände wie „So zärtlich war Suleyken“ (1955) oder „Lehmanns Erzählungen“ (1964). Vor drei Jahren (2011) erschien sein letzter Erzählband „Die Maske“.
Politiker, Literaten und Freunde des Autors würdigten Lenz' literarische Verdienste, aber auch seinen Beitrag zur Aussöhnung mit Polen und Israel. Für Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier ist mit dem Tod des Schriftstellers „auch ein Stück Deutschland von uns gegangen“. Der SPD-Politiker sagte, Lenz habe „wie kein Zweiter das gesellschaftliche Leben der Bundesrepublik Deutschland beobachtet und mit seinen Werken geprägt“.
Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach (Baden-Württemberg) charakterisierte Lenz als „großen Erzähler der Nachkriegsgeschichte“. Er stehe ohne Zweifel auf einer Stufe mit Heinrich Böll, Günter Grass, Martin Walser und Uwe Johnson, sagte Archivleiter Ulrich von Bülow. Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) betonte, Lenz habe menschliche Schicksale immer wieder mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Fragen verknüpft. „Auch damit hat er das Bild Hamburgs und der Bundesrepublik Deutschland in der Welt geprägt.“
Seit Jahren war Lenz gesundheitlich schwer angeschlagen. Bereits auf den Rollstuhl angewiesen, hatte der Autor in den letzten Jahren ein Appartement in einer Hamburger Senioren-Residenz an der Elbchaussee mit freiem Blick auf den Elbstrom. Im September 2013 besuchte er noch das Hamburger Filmfest und sah sich die Verfilmung seiner Kurzgeschichte „Die Flut ist pünktlich“ an. In den vergangenen Monaten regelte er noch viele Dinge. So besuchte er im April das Literaturarchiv, das sein persönliches Archiv erhält. Im Juni gründete er die Siegfried-Lenz-Stiftung in Hamburg.
Neben den Nobelpreisträgern Heinrich Böll und Günter Grass gehörte Lenz zu jenen Autoren, die die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die Aussöhnung insbesondere mit Polen und Israel als Lebensaufgabe verstanden. Bei einem Festakt zum 85. Geburtstag in Hamburg hob der damalige Bundespräsident Christian Wulff hervor, wie sehr Lenz zum wiedergewonnenen Ansehen Deutschlands nach dem Krieg beigetragen habe. Der Börsenverein ehrte Lenz 1988 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Die „Deutschstunde“ (1968) gilt als Lenz' Schlüsselwerk zur Aufarbeitung der Nazizeit und historischer Schuld. Darin geht es um einen Vater-Sohn-Konflikt - stellvertretend für die Kriegsgeneration und die rebellierende Folgegeneration - sowie um die fatalen Folgen eines unkritischen Pflichtbewusstseins in der NS-Zeit.
In dem ebenfalls verfilmten Roman „Heimatmuseum“ (1978) lässt Lenz die verlorene ostpreußische Heimat literarisch wiederauferstehen und schenkt so zumindest einem Teil der Vertriebenen inneren Frieden. Die Hauptfigur, der masurische Teppichwebermeister Zygmunt Rogalla, verbrennt das von ihm einst gerettete Heimatmuseum, um es vor ideologischem Missbrauch zu retten.
Auch politisch engagierte sich der in der Nazizeit aufgewachsene Autor für die Aussöhnung mit Polen. 1970 begleitete er mit Grass den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) zur Unterzeichnung des Warschauer Vertrages. Außerdem mahnte Lenz Solidarität mit Israel an, als der damalige irakische Diktator Saddam Hussein den jüdischen Staat mit Raketen bedrohte.
Seine Werke sind nach Angaben des Hoffmann und Campe Verlags vom Dienstag, dem Lenz seit Beginn seiner schriftstellerischen Arbeit sein Leben lang die Treue hielt, in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Die Weltauflage liegt demnach bei über 25 Millionen. Ein Millionenpublikum fanden die Fernsehverfilmungen „Der Mann im Strom“, „Das Feuerschiff“ und „Die Auflehnung“, jeweils mit Jan Fedder in der Hauptrolle. Das breite Oeuvre von Lenz umfasst Romane, Erzählbände, Theaterstücke, Hörspiele und Essays - etwa über das Selbstverständnis des Schriftstellers als „Ein-Mann-Partei“.
Als frühe literarische Vorbilder hat Lenz unter anderem Ernest Hemingway, William Faulkner und John Dos Passos genannt. Der französische Existenzialismus, insbesondere Jean-Paul Sartre und Albert Camus, haben ihn ebenfalls geprägt. Ausnahmesituationen, in denen der Einzelne sich bewähren muss, versagt oder scheitert, sind denn auch typisch für viele Protagonisten in Lenz' Büchern.
Lenz wurde am 17. März 1926 in der masurischen Kleinstadt Lyck im heutigen Polen geboren. Dort durfte er, wie er selber schrieb, „mit Tausenden von Pimpfen Spalier stehen, als es Leute namens Hitler oder Koch oder Goebbels in die Hauptstadt und Perle Masurens verschlug“. Mit 17 kam er zur Marine. Sein Schiff „Admiral Scheer“ kenterte am 9. April 1945 im Kieler Hafen nach Bombentreffern. Lenz war, wie der Großteil der Besatzung, aber nicht mehr an Bord gewesen. Er kam als Soldat nach Dänemark und desertierte kurz vor Kriegsende, nachdem jemand liquidiert worden war, weil, wie Lenz erkannte, sie einen Toten brauchten, „um uns an ihre Macht zu erinnern“. Mit Hilfe dänischer Bauern verbrachte er das Kriegsende in Wäldern.
Nach englischer Kriegsgefangenschaft sollte noch 1945 Hamburg seine neue Heimat werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Lenz ein Lehrerstudium begonnen, er arbeitete als Kulturredakteur für die Tageszeitung „Die Welt“ und wurde nach dem Erscheinen seines Debütromans „Es waren Habichte in der Luft“ 1951 freier Schriftsteller. Die Hansestadt verlieh dem mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichneten Autor zum 75. Geburtstag die Ehrenbürgerwürde.
Nach dem Tod seiner Frau Liselotte im Jahre 2006, mit der er 57 Jahre verheiratet war, fand der Autor noch einmal spätes Glück. Mit 84 Jahren heiratete er 2010 die Dänin Ulla Reimer, eine langjährige Freundin seiner Frau. Ulla widmete er auch seine erste, im hohen Alter geschriebene Liebes-Novelle „Schweigeminute“ (2008), die Lenz noch einmal einen Bestseller bescherte.
Eine langjährige Freundschaft verband den Autor mit Loki und Helmut Schmidt. Am 1. November 2010 kam Lenz im Rollstuhl zur Trauerfeier von Loki, um ihr die letzte Ehre zu erweisen und Helmut Schmidt beizustehen. Der Altkanzler bezeichnete seinen Freund „Siggi“ einmal als „demokratischen Erzieher“.
Gerade ist bei Hoffmann und Campe das Buch „Schmidt-Lenz. Geschichte einer Freundschaft“ erschienen, ein Porträt über die fünfzigjährige Freundschaft zwischen dem Autor und dem Politiker. An diesem Mittwoch wird zudem eine Auswahl von Siegfried Lenz' wichtigsten Essays aus fünf Jahrzehnten mit dem Titel „Gelegenheit zum Staunen“ veröffentlicht.