Selbstmorde im Dritten Reich
Berlin (dpa) - „Wenn man nur keine Wiederbelebungsversuche anstellen wollte, bei einem der nicht leben will! Es liegt auch kein Unfall vor und kein Schwermutsfall. Es geht jemand aus dem Leben, der seit über hundert Jahren Deutsche Bürgerbriefe besitzt.Ich will nicht leben ohne Vaterland, ohne Heimat, ohne Wohnung, ohne Bürgerrecht, geächtet und beschimpft.“
Das schrieb die 76-jährige Jüdin Hedwig Jastrow in ihrem Abschiedsbrief vor ihrem Freitod. Ihren Entschluss fasste die Berlinerin kurz nach der Reichspogromnacht, in der Juden getötet, misshandelt, gedemütigt und terrorisiert wurden.
Die frühere Lehrerin und Feministin wollte keine weitere Erniedrigung ertragen. Ihr Freitod war ein Akt der Selbstbehauptung. So wie sie wählten viele Juden im Dritten Reich diesen Weg. Allein in der Zeit der Deportationen zwischen 1941 und 1943 begingen mehrere tausend Juden in Deutschland Selbstmord.
In seinem Buch „Selbstmord im Dritten Reich“ hat der an der University of London lehrende deutsche Historiker Christian Goeschel zahlreiche solche erschütternden Beispiele dokumentiert. Dafür hat er Abschiedsbriefe, Polizeiberichte, Gerichtsdokumente und Zeitungsberichte ausgewertet. Neben den Juden wählten auch viele in die Enge getriebene politische Gegner, Homosexuelle und sonstige Unerwünschte den Selbstmord als einzigen Ausweg, ihre Würde zu bewahren. Wenigstens die Entscheidung über ihren Tod wollten diese Menschen nicht den Nazis überlassen. Mehr als bloße Statistiken, die Goeschels Buch allerdings auch reichlich enthält, entlarven diese persönlichen Schicksale die traurige Wirklichkeit des Dritten Reichs.
Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, glaubten sie, dass sich das Thema Selbstmord unter ihrer Herrschaft bald von selbst erledigen würde. In der Weimarer Republik hatten die Selbstmorde, wie Hitler nicht müde wurde zu betonen, massiv zugenommen. Arbeitslosigkeit und soziale Entwurzelung nach verlorenem Krieg, Inflation und Weltwirtschaftskrise trugen dazu bei. Die kranke Psyche vieler Menschen war nach Ansicht der Nazis Ausdruck eines kranken Systems.
Da muss es für die neuen Machthaber ausgesprochen enttäuschend gewesen sein, dass sich auch unter ihrer Ägide an den hohen Selbstmordraten nichts änderte. „Es ist auffallend, wie wenige Nachrichten über Selbstmorde in die Presse kommen, bei denen Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Not als Gründe angegeben sind“, heißt es in einer zeitgenössischen Studie. „Aber ist die Zahl der Selbstmorde in Deutschland wirklich zurückgegangen? Keineswegs.“
Die Zeitungen durften über Selbstmorde aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr berichten. Auch der Freitod aus politischen Motiven war natürlich ein absolutes Tabu. Angemessene Gründe waren dagegen: Geistige Störung, plötzliche Umnachtung, zerrüttete Familienverhältnisse, Liebeskummer, schwere Erkrankung oder auch „Gründe unbekannt“. Gemäß ihrer sozialdarwinistischen Ausrichtung sahen Nationalsozialisten auf Selbstmörder als psychisch labile oder kranke Personen herab.
Fast noch schlimmer war der Vorwurf, erblich belastet und rassisch minderwertig zu sein. „Es kann kein Zweifel sein, dass die meisten Selbstmörder zu den gefährdeten und labilen Typen gehören, deren Fortpflanzung nicht unbedingt wünschenswert nach dem Ideal der heutigen Staatsbiologie ist“, schrieb ganz im Sinne der Nazis der Arzt und Dichter Gottfried Benn.
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs nahmen die Selbstmorde sprungartig zu. Immer mehr verzweifelte Soldaten suchten an der Front den Freitod, was von den braunen Machthabern als „unehrenhaft“ und „feige“ gegeißelt wurde. Aber auch Zivilisten, die keinen Ausweg mehr sahen, gingen freiwillig in den Tod. Aus Angst vor der Roten Armee brachten sich 1945 viele Menschen in Ostdeutschland um. Fast 4000 Selbstmorde wurden allein im April 1945 in Berlin verzeichnet. Das war fünfmal mehr als in den Jahren zuvor. Auch Hitler und viele Nazi-Größen begingen am Ende Selbstmord. Nach ihrer zynischen, verqueren Ideologie verstanden sie dies aber keineswegs als feigen Akt, sondern als „heroisches Selbstopfer“.
Der zerstörerische Charakter des NS-Regimes spiegelte sich nicht zuletzt in den vielen Selbstmorden wider. Es ist Goeschels Verdienst, erstmals diesen Zusammenhang umfassend beleuchtet und dabei den Menschen hinter den nackten Zahlen ein Gesicht gegeben zu haben.
Christian Goeschel
Selbstmord im Dritten Reich
Suhrkamp Verlag, Berlin,
338 Seiten, 21,90 Euro
ISBN 978-3-518-42269-4