Theatergeschichte: Godot ist nicht absurd, sondern bitter wahr

Samuel Beckett erzählt das Warten zwei jüdischer Flüchtlinge auf Schleuser.

Düsseldorf. Wäre der Berliner Verlag Matthes & Seitz nicht so absolut glaubwürdig, man könnte an eine Gaudi denken. Doch es ist ernst und wahr: Der französische Gymnasiallehrer und Theaterkenner Valentin Temkine und sein Enkel Pierre belegen, dass "Warten auf Godot" alles kein absurdes, fiktives Theater ist, sondern bittere Realität.

Temkine resümiert: "Es ist nun in gar keiner Weise mehr eine Geschichte aus dem Land des Absurden, sondern eine Geschichte aus Frankreich zu einer ganz bestimmten Zeit."

Dass Samuel Beckett Mitglied der Widerstandsbewegung Résistance war und von Paris aufs Land zu einem Weinbauern in La Vaucluse im Roussillon fliehen musste, war schon vorher bekannt. Doch hat bisher keiner die vielen kleinen, rätselhaften Details aus dem Stück geachtet und sie entschlüsselt, überführt in reale Situationen.

Kern von Temkines Entdeckung: Wladimir und Estragon spiegeln nicht existentielle Absurdheit, sondern waren zwei Juden, die 1943 in Paris auf ihren Schleuser zur Flucht nach Italien warten. Selbst den Ort gibt Beckett genau an: auf einer trockenen, kalkigen Hochebene der Südalpen.

Zwangsläufig findet man in fast allen Bühnenbildern nach der Uraufführung 1953 ein vertrocknetes Baumgerippe. Der Übersetzer ins Deutsche, Elmar Tophoven, so ermittelte Temkine weiter, habe das Seine dazu getan, die Spuren - wohl ungewollt - zu verwischen. So macht er aus der Vaucluse das Breisgau. Beckett selber hat das Rätsel nie gelöst, vielmehr "Warten auf Godot" selber inszeniert, 1975 am Berliner Schillertheater.

Interessant ist auch der Umgang mit dem Stichwort Bibel, das im Stück vorkommt. Dort wählen sie einen Ort namens La Roquette, wie seinerzeit das jüdische Viertel in Paris hieß, wo eine Synagoge stand und steht. Das komplette Interieur einschließlich einer Landkarte mit dem Toten Meer von wird von Beckett im Text zitiert.

Fazit: Becketts Stück ist keineswegs jetzt ärmer, sondern reicher geworden: Das Warten kann eben beides sein, Realität und Fiktion.