„Unschuld“: Neues von Jonathan Franzen
New York/Reinbek (dpa) - Schon von der ersten Seite an ist „Unschuld“ ganz klar „Franzenland“, wie das „Time“-Magazin es formuliert. Die Geschichte des Romans spielt unter anderem in Kalifornien, in Deutschland und im Mittleren Westen der USA.
Es geht um Computer und das Internet, Vögel und gestörte Familienverhältnisse und immer wieder um Idealismus versus Realismus. Das sind die Themen von Jonathan Franzen, dem Vogel-Liebhaber und Internet-Hasser, der in der Nähe von Chicago geboren ist, fließend Deutsch spricht und in New York und Kalifornien lebt.
Schon in seinen gefeierten Erfolgsromanen „Die Korrekturen“ (2001, drei Millionen verkaufte Exemplare) und „Freiheit“ (2010, zwei Millionen verkaufte Exemplare) hat er daraus große Geschichten gewebt. In Deutschland ist „Unschuld“ am Freitag erschienen - mit einer Auflage von 200 000 Exemplaren, wie der Hamburger Rowohlt Verlag mitteilte.
Mit „Unschuld“ gibt es nun eine neue Variante des 56-jährigen Bestsellerautors, den das „Time“-Magazin einst auf dem Titel als den „großen amerikanischen Romanschriftsteller“ feierte. Auch dieses Werk hat wieder mehr als 800 Seiten. Darunter geht es bei Franzen nicht, und im Buch macht er sich sogar selbst darüber lustig, wenn er von einem Schriftsteller namens Charles erzählt, der „das große Buch“ schreiben will, „den Roman, der ihm seinen Platz im Kanon der modernen amerikanischen Literatur sichern sollte. Früher einmal hatte es genügt, "Schall und Wahn" oder „Fiesta“ zu schreiben. Heute dagegen war Umfang unerlässlich. Dicke, Länge.“
„Unschuld“ handelt von der jungen Purity, die ihren Namen so sehr hasst, dass sie sich Pip nennt, was wohl nicht zufällig auch der Name von Charles Dickens' Protagonisten in „Große Erwartungen“ ist. Pip kennt ihren Vater nicht, hat eine klammernde Mutter und Studienschulden. Über Bekannte lernt sie den Deutschen Andreas Wolf kennen, der eine Art Julian Assange ist, aus Bolivien heraus so etwas wie eine WikiLeaks-Organisation leitet und Pip ein Praktikum anbietet. Die Geschichten von diesen und einigen anderen Protagonisten verwirren und entwirren sich in den einzelnen Kapiteln, bevor es zu einem überraschenden Schlusstwist kommt.
Das Ergebnis liest sich flüssig, unterhaltsam und klug, immer wieder mit den beeindruckend schönen Sätzen und Bildern dazwischen, für die Franzen bekannt ist. „Unschuld“ erinnert stark an „Die Korrekturen“ und „Freiheit“ und ist doch ganz anders, aktueller, reifer und mit mehr Selbstironie des Autors, dem von Kritikern und Literaturkollegen in der Vergangenheit häufig überbordende Arroganz vorgeworfen wurde. „So viele Jonathans“, schreibt Franzen an einer Stelle. „Eine wahre Plage von Literatur-Jonathans. Liest man nur die "New York Times Book Review", möchte man meinen, Jonathan sei der häufigste Männername in Amerika. Gleichbedeutend mit Talent, Größe. Ehrgeiz, Vitalität.“
„Eine neue Oktave“ habe Franzen mit dem Roman getroffen, jubelte die „New York Times“. „Unschuld“ sei Franzens „bislang leichtfüßigster, am wenigsten gehemmter und intimster Roman“ und dürfte sogar bei Lesern ankommen, die sein bisheriges Werk, von vier Romanen und zahlreichen Essay-Bänden nicht mochten.
Andere Kritiker zeigten sich weniger begeistert. „Unschuld“ handele von „allem und nichts“, schrieb die „New York Daily News“. Das Buch sei zwar intelligent und gut geschrieben, aber „kein großes amerikanisches Meisterwerk“, kritisiert die Zeitung. „Dieses Buch ist fast belastet davon, wie groß es ist und wie wenig es gleichzeitig zu sagen hat.“
Der britische „Guardian“ feierte Franzen zwar erneut als „außergewöhnlich guten Schriftsteller“, bemängelte aber seine Beschreibung von Frauen als zu einseitig.
Für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ ist „Unschuld“ ein „komplexer Roman voller Anspielungen und Referenzen, dessen aufwendige Konstruktion fast unsichtbar bleibt“. Der „Spiegel“ beschreibt das Buch als einen „Wirbel aus großen Fragen, großen Thesen, großen Ereignissen“.
Bei all dem, so merkt das „Time“-Magazin an, müsse berücksichtigt werden, dass die Messlatte für Franzen-Romane inzwischen geradezu übermenschlich hoch sei. „Beide früheren Bücher wurden als Meisterwerke amerikanischer Literatur bezeichnet und von „Unschuld“ dasselbe zu sagen, dürfte wahr sein - verfehlt aber den eigentlichen Punkt. Maßgebende Streiche kann man von Franzen jetzt einfach erwarten und sein neuer Roman ist keine Explosion von Schriftstellertalent wie „Die Korrekturen“ und keine großartige Unterstreichung davon wie „Freiheit“, sondern eine einfache und angenehme Erinnerung an seine scharfsichtige Präsenz.“
- Jonathan Franzen: Unschuld, Rowohlt-Verlag, 832 Seiten, 26,95 Euro, ISBN: 9783498021375.