US-Schriftsteller John Irving: Meister des letzten Satzes
John Irving zimmert seine Romane wie ein Handwerker zusammen. Am Freitag wird der Bestseller-Autor 70 Jahre alt.
Vermont. Wenn John Irving Seilchen springt, wirkt das wie Stepptanz. Lässig federt er mal mehr auf dem rechten Fuß, mal auf dem linken — man merkt die jahrzehntelange Erfahrung des Ringers, der es fast bis zu den Olympischen Spielen gebracht hat.
Diese hübsche Sequenz steht am Beginn eines Filmporträts (siehe Kasten) über den US-Schriftsteller. Denn dem Mann, der am Freitag 70 Jahre alt wird, geht es nicht nur um die Fitness und die Leichtfüßigkeit, mit der er seinen Hund auf der Treppe abhängt. Ringen ist für ihn eine Art Lebensanschauung, durch den Sport habe er viel fürs Schreiben gelernt, sagt Irving.
Insbesondere Disziplin: „Du musst anerkennen, dass man kleine Sachen immer und immer wiederholen muss und dass das nicht langweilig, sondern notwendig ist.“ Seine Romane, zwölf sind es bisher, haben wundersam wuchernde Handlungen.
Irving entwirft in jedem Werk für die meisten seiner Figuren skurrile Lebensläufe, flankiert sie mit grotesken Todesfällen und absurden Wechselfällen der Liebe, lässt auch immer wieder gern Bären mitspielen.
Diese prallen Erzählungen entstehen jedoch keineswegs im Schaffensrausch, sondern durch beharrliche Arbeit. Er sei kein Intellektueller, sagt Irving, sondern er zimmere seine Geschichten wie ein Handwerker zusammen.
Vom Ringer-Training hat er die Demut übernommen: „Automatisierung macht dich besser, ich weiß es. Ich weiß daher auch, dass meine Bücher besser werden mit jedem Durchgang des Überarbeitens. Schreiben heißt umschreiben“, sagte er mal dem „Spiegel“.
Am Anfang steht bei ihm aber immer der letzte Satz. Den braucht er, um zu wissen, wo seine Geschichte hinlaufen soll. Wenn der unverrückbar fest steht („Letzte Sätze sind Fundamente, die ändern sich nicht“), baut er das Gerüst des Romans vom Ende her in Gedanken und Notizbüchern auf, um schließlich von vorn zu schreiben anzufangen — mit der Hand. Denn es darf nicht zu schnell gehen, sonst fürchtet er, sich zu verheddern.
John Irving hat seinen leiblichen Vater nie kennengelernt, mit sechs Jahren wurde er von seinem Stiefvater adoptiert, den er sehr gemocht hat. Dennoch wird es kein Zufall sein, dass er sich in fast jedem Roman an schwierigen Familienkonstellationen abarbeitet.
In „Bis ich dich finde“ lässt er die Hauptfigur Jack Burns sogar auf mehr als 1000 Seiten seinen Vater suchen, der Roman gilt als Irvings heimliche Autobiografie.
Sein Werk ist in 30 Sprachen übersetzt. Fünf seiner Bücher wurden verfilmt. Das Drehbuch zu „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ brachte ihm sogar den Oscar ein. Dass der Besteller-Autor daheim umstrittener ist als in Europa, liegt daran, dass er politische Themen wie Abtreibung, Vietnam-Trauma, Präsidentenmord und Apathie der Bürger nicht scheut.
Irving führt in dem beschaulichen Neuengland-Staat Vermont „ein sehr geregeltes Leben“, blickt von seinem Schreibschuppen auf Ahornbäume und den See. Er halte es mit Gustave Flaubert, sagt Irving und zitiert den französischen Autor aus dem 19. Jahrhundert: „Man muss im Leben sehr ruhig sein, damit man in den Romanen lauter schreien kann.“ Er zitiert in durchaus passablem Deutsch, denn er hat zu Studienzeiten ein Jahr in Wien verbracht — „Heidelberg war mir zu teuer“.
Trotz zahlreicher Brüche kann er vom Ringen bis heute nicht lassen. Nach dem Auszug des jüngstens einer drei Söhne ringt er oft mit einer schweren, lebensgroßen Puppe: „Inzwischen ist die besser als ich, weil sie nie müde wird.“